Roman: Die Empathie der Bäume
In seinem jüngsten Roman «Die Stille des Meeres» verwebt der irische Autor Donal Ryan nuanciert die Schicksale dreier Männer.
Inhalt
Kulturtipp 14/2021
Simon Knopf
Wir kennen das Brennen, das Farouk im Bauch spürt. Wenn sich die Erkenntnis über die eigene Naivität mit der Angst vor deren Folgen mischt. Farouk hat sich die Flucht aus Syrien als Kreuzfahrt auf einer Jacht vorgestellt. Als die Schlepper ihn und seine Familie auf einen maroden Holzkahn drängen, überwältigen ihn Scham und Panik. Ja, wir kennen das Brennen – schliesslich sind wir Menschen empathisch.
Jeder Protagonist mit eigenem Erz&...
Wir kennen das Brennen, das Farouk im Bauch spürt. Wenn sich die Erkenntnis über die eigene Naivität mit der Angst vor deren Folgen mischt. Farouk hat sich die Flucht aus Syrien als Kreuzfahrt auf einer Jacht vorgestellt. Als die Schlepper ihn und seine Familie auf einen maroden Holzkahn drängen, überwältigen ihn Scham und Panik. Ja, wir kennen das Brennen – schliesslich sind wir Menschen empathisch.
Jeder Protagonist mit eigenem Erzählton
Farouk ist einer von drei Protagonisten in Donal Ryans neustem Roman «Die Stille des Meeres». Ryan gehört zu den bemerkenswertesten Stimmen der neueren irischen Literatur. In seinem Erstling «Die Gesichter der Wahrheit» etwa beschrieb er 2012 die Gefühlswelt von 21 Dorfbewohnern, die unter den Folgen der Finanzkrise leiden.
Auch in «Die Stille des Meeres» arbeitet er fragmentarisch, aber äusserst nuanciert und feinfühlig. Seinen Protagonisten widmet er je ein Kapitel und einen eigenen Erzählton. Farouks Frau und Tochter sterben auf dem Mittelmeer. In der Folge weichen die stets geordneten Gedanken des Arztes einer sich wie Wellen überschlagenden Sprachflut. Der junge, dümpelnde Lampy wiederum kann seine Gefühle und Wünsche nicht in Worte fassen. Seine ungelenke Art kontrastiert Ryan mit dem kruden Witz des vorlauten Grossvaters. Der alte John schliesslich beichtet die gewaltvollen Folgen seiner Eifersucht in feierlichem Ton.
Einblick in verhockte Gesellschaftsstrukturen
Ryan wird die drei Erzählungen zusammenfügen, so viel sei verraten. Die Stärke dieses Romans besteht aber in den feinen Brückenschlägen zuvor. Lampys Aussenseitertum als Vaterloser und Johns Gefühlskälte – sie wurzeln beide in den verhockten Gesellschaftsstrukturen des ländlichen, erzkatholischen Irland. Und Farouks Flucht spiegelt sich immer wieder in Anspielungen auf Irlands Geschichte als Auswanderungsland par excellence. So ist «Die Stille des Meeres» vor allem eines: ein Plädoyer für mehr Empathie. Dies wird bereits im ersten Kapitel deutlich. Da erzählt Farouk seiner Tochter, wie Bäume sich in der Not gegenseitig Nährstoffe über die Wurzeln zuschicken. Eine wunderbare Parabel. Eine, die wir uns gerne öfter in Erinnerung rufen dürfen.
Donal Ryan
Die Stille des Meeres
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
288 Seiten
(Diogenes 2021)