Ihr Leben ist eine einzige Inszenierung: Selbst das Frühstück zu Hause oder die Anschaffung einer der ersten Geschirrspülmaschinen Irlands wird bei der Schauspielerin Katherine O’Dell zum grossen Auftritt. Und dass «die irischste Schauspielerin aller Zeiten» in Wahrheit eine Engländerin mit rot gefärbten Haaren ist, gehört zur Kunst der Illusion dazu. «Meine Mutter war eine Hochstaplerin», schreibt Anne Enrights Ich-Erzählerin, die auf das Leben ihrer berühmten Mutter zurückblickt. «Sie war auch eine Künstlerin, eine Rebellin und eine Romantikerin; man durfte sie nennen, wie man wollte, solange man sie keine Engländerin nannte, denn das wäre eine schlimme Beleidigung gewesen. Und ausserdem, leider, die Wahrheit», heisst es im humorvollen Unterton, der das ganze Buch durchzieht.
Bilanz über das Leben im Schatten des Stars
Mit liebevollem, aber auch kritischem Blick beleuchtet die Ich-Erzählerin das Leben ihrer Mutter, die in den Nachkriegsjahren erste Erfolge feierte, in Hollywood ein Star wurde und nach einer ungewollten Schwangerschaft nach Irland zurückkehrte. Ihr Stern ist längst am Sinken, als sie einem Filmproduzenten in den Fuss schiesst und vor Gericht für verrückt erklärt wird. Facettenreich umkreist die Ich-Erzählerin dieses ambivalente Leben zwischen Ruhm und Einsamkeit: «Glücklich war sie nie, aber sie hat eine verdammt gute Show abgezogen», resümiert sie etwa.
Die Tochter zieht aber auch Bilanz über ihr eigenes Verhältnis zur Mutter und über ihr Leben im Schatten des Stars. Denn die Interviewanfrage einer Journalistin viele Jahre nach dem Tod ihrer Mutter bringt sie nochmals dazu, nach ihren Wurzeln zu suchen. Die Identität ihres Vaters hat Katherine O’Dell ihrer Tochter nie verraten, und so bleiben ihr nur Mutmassungen. Ihre Rückschau richtet die Ich-Erzählerin an ein «Du», das sich als ihr langjähriger Ehemann herausstellt.
Die 1962 geborene irische Booker-Prize-Trägerin Anne Enright, die selbst als Schauspielerin und Fernsehproduzentin gearbeitet hat, überzeugt in ihrem neusten Werk einmal mehr durch ihre funkelnde Sprache und überrascht mit kraftvollen Bildern. «An jenem Tag klapperte ihre Verrücktheit vor sich hin wie der Deckel eines Topfes mit kochendem Wasser», heisst es etwa treffend an einer Stelle über die Diva.
Reflexion über das Frausein
«Die Schauspielerin» handelt aber nicht nur von einer besonderen Mutter-Tochter-Beziehung, sondern reflektiert auch das Frausein, das sich über die Jahrzehnte gewandelt hat. Beide, Mutter und Tochter, haben männliche Gewalt erfahren, wie sich im Roman nach und nach herauskristallisiert. Enright erzählt davon fast beiläufig und demonstriert dennoch eindrücklich die Machtmechanismen, die gerade in Film- und Theaterkreisen herrschten, aber auch die Mischung aus Schuld, Scham und Verdrängung nach sexuellen Übergriffen.
Am Ende von Anne Enrights packendem siebtem Roman steht das ebenso lebendige wie tröstliche Bild eines aufziehenden Sturms am Meer in der irischen Kleinstadt Bray. Die Tochter hat ihren eigenen Weg gefunden und sich mit der wechselvollen Geschichte ihrer berühmten Mutter versöhnt.
Buch
Anne Enright
Die Schauspielerin
Aus dem Englischen von Eva Bonné
304 Seiten
(Penguin 2020)