Der dramatische Höhepunkt findet gleich zu Beginn in New York statt: Kaum in der Wohnung in Brooklyn angekommen, stürzt die Mutter auf die Kante des Couchtischs, liegt blutend am Boden. Nach einer absurden, viel Geduld fordernden Odyssee im Krankenhaus ist klar: Alles halb so schlimm. Aber die Mutter muss ihre Reise mit einer angeknacksten Nase und zwei blauschwarzen Veilchen antreten. Der Unfall bedeutet auch für den Sohn ein Gefühlschaos: Zu Anfang der Reise hatte er sich noch geärgert, weil seine Mutter sich auch für die zweite Ferienwoche aufgedrängt hatte, die er alleine verbringen wollte. Nun überwiegt die Sorge.
Motel-Übernachtungen und Bekanntschaften
Eine Mutter und ihr erwachsener Sohn zusammen auf einem zweiwöchigen USA-Trip – kann das gut gehen? Dieser Frage geht Matthias Nawrat in seinem fünften Roman «Reise nach Maine» aus der Perspektive des Sohnes mit leisem Humor nach. Nach dem anfänglichen Drama verläuft die Reise zwar ruhiger: Die beiden fahren mit dem Auto Richtung Camden in Maine, übernachten in Motels, machen Zufallsbekanntschaften mit Menschen, die ihnen ihre Lebensgeschichten erzählen.
Doch auch wenn äusserlich nicht viel passiert – zwischen den Zeilen gären die Mutter-Sohn-Konflikte. Nawrat beschreibt detailliert, ohne zu werten oder Gefühle zu benennen; deutet durch das Ungesagte aber eine Atmosphäre der Gereiztheit oder Beklemmung zwischen den beiden an. Subtil deckt der Autor die festgefahrenen Rollen und unausgesprochenen Konflikte auf.
Das birgt auch viel Komik in sich: Wenn die Mutter das Pyjama des Sohnes faltet oder den blitzsauberen Wagen staubsaugt, kann man das innerliche Augenrollen des Sohnes ebenso spüren wie in den absurden, aus dem Leben gegriffenen Dialogen. Diese enden schon mal mit der entnervten Kapitulation des Sohnes: «Ich möchte es so machen, wie du möchtest», nachdem sich die Frage, wann sie was essen sollen, im Kreis gedreht hatte.
Ein Gesellschaftsbild der USA
Manchmal geht es aber auch ans Eingemachte, und in den Gesprächen zeigt sich der angestaute Frust der Mutter, die von Polen nach Deutschland ausgewandert ist, als Akademikerin im neuen Land als Reinigungskraft arbeiten musste, sich für die Familie aufgeopfert hat und von ihrem Mann für eine Andere verlassen wurde. Genauso offenbart sich die Enttäuschung des Sohnes darüber, dass die Mutter seinen Beruf als Schriftsteller bloss als Hobby abtut. Dazwischen gibt es jedoch auch die Momente des gegenseitigen Verständnisses, des stillen Einvernehmens.
Der vielfach ausgezeichnete Autor, der 1979 im polnischen Opole geboren wurde und als Zehnjähriger nach Deutschland emigrierte, erzählt hier ein Stück weit seine eigene Familiengeschichte. Nawrat zeichnet aber auch ein Gesellschaftsbild der USA, die sich 2018 unter Donald Trumps Herrschaft befindet – freiliche ohne diesen namentlich zu erwähnen. So gelingt ihm ein fein komponierter, stiller Roman, der den schwelenden Bränden unter der Oberfläche nachgeht.
Lesung
Do, 2.9., 19.00 Literaturhaus Basel
Buch
Matthias Nawrat
Reise nach Maine
224 Seiten
(Rowohlt 2021)