Das Gift war in der Welt. «Nun musste man es durchschauen, um ihm beizukommen.» Der Wissenschafter Ludwig Lendle versuchte sich an der Universität Münster einzureden, er erforsche nur die Möglichkeiten der Genesung nach einer Giftgasverletzung. Er betrieb diese Forschung allerdings im Dienst des Naziregimes. Denn als Leiter des Pharmakologischen Instituts stand er Ende der 1930er-Jahre einer Aussenstelle des Heeres-Waffenamts vor. Lendle war indes kein Nazi, er hasste das Unrechtsregime.
Von Ludwig Lendles Gewissensbissen schreibt sein Grossneffe, der Schriftsteller Jo Lendle, in der fiktionalen Biografie «Eine Art Familie». Der Titel bezieht sich auf die ungewöhnlichen Lebensumstände: Der schwule Forscher lebte mit einer Haushälterin, dem «Fräulein Gerner», und seinem Patenkind Alma zusammen, das ohne Eltern aufwachsen musste. Autor Lendle stellt diese Ménage-à- trois in den Mittelpunkt, um damit den Zwiespalt des Wissenschafters erfahrbar zu machen. Alle drei waren Regimegegner, und der Pharmakologe musste seine zeitweilige Zusammenarbeit mit dem Regime vor den beiden Frauen verheimlichen, weil sie ihn dafür verachtet hätten. So hatten sie nur eine vage Vorstellung von seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, zumal sein wichtigstes Forschungsgebiet der Schlaf war: «Er wollte den Schlaf aus der Nacht hervor ins Licht holen. Man durfte den Schlaf nicht sich selbst überlassen.»
Ein Stück eigene Familiengeschichte
Jo Lendle ist Chef des Verlags Carl Hanser und hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht. Besonders in Erinnerung ist seine fiktionale Biografie des Meteorologen Alfred Wegener, der 1930 aufgebrochen war, um in Grönland den einsamsten Punkt der Erde zu suchen. In diesem Roman wie in seinem neuen Buch erzählt Lendle personalisierte Zeitgeschichte.
Alma fand in ihrem Patenonkel einen fürsorglichen Betreuer. Sie verstand es, sich mit List geschickt durch die Unbilden der Zeit zu schlängeln, passte sich nur gerade so sehr an wie unbedingt nötig. Das «Fräulein Gerner» bleibt im Gegensatz zu Alma schemenhaft. Sie ist neben den Hausarbeiten vor allem mit Strickarbeiten beschäftigt. Aber als die Polizei Auskünfte über den Forscher einholen will, stellt sie sich mutig vor ihn. Jo Lendle erzählt mit dieser Hommage an seinen Grossonkel auch ein Stück Familiengeschichte. So wechselt der Erzähler mitunter in die Ichform, um grössere Nähe zum Geschehen zu schaffen, auch wenn die historische Distanz bleibt: «Für mich war er ein Held. Kann man einem Menschen nahekommen, ohne ihm begegnet zu sein?» Dahinter versteckt sich Brisanz, denn der Grossvater des Autors, also der Bruder des Pharmakologen, war ein Nationalsozialist der ersten Stunde. Das Trauma des Ersten Weltkriegs prägte das Leben der beiden Brüder – allerdings sehr unterschiedlich.
Mitunter etwas über die Stränge gehauen
Der Autor nimmt sich alle Freiheiten, diese Geschichte zu erzählen, und haut mitunter etwas über die Stränge. So lässt er die beiden Brüder in den 1930er-Jahren über verwandtschaftliche Bande mit der englischen Königin Elisabeth orakeln. Diese war damals ein Kind und noch sehr weit vom Thron weg. Das Missgeschick sei Lendle vergeben, er hat einen schönen Roman über seine schwierige Familiengeschichte geschrieben.
Buch
Jo Lendle
Eine Art Familie
368 Seiten
(Penguin 2021)