Roman - Der Spion auf der Co  uch des Psychiaters
Geschichtslektion als Spionagethriller: Der neue Roman von William Boyd spielt in den Jahren des Ersten Weltkriegs. «Eine grosse Zeit» lautet der Titel – und ist eine grosse Lektüre.
Inhalt
Kulturtipp 09/2012
Rolf Hürzeler
Lysander Rief, seines Zeichens ein mittelmässiger Schauspieler, hat im Dienste Seiner Majestät einen kleinen Spionageauftrag gefasst. Er soll im britischen Verteidigungsministerium mit seinen Tausenden von Beamten ein Leck finden, durch das dem deutschen Feind Informationen zufliessen: «Er spähte in einen Raum, dessen Tür halb offen stand, und sah drei Offiziere, die gleichzeitig telefonierten. Zwei Sekretärinnen, die auf ihre Schreibmaschinen h&a...
Lysander Rief, seines Zeichens ein mittelmässiger Schauspieler, hat im Dienste Seiner Majestät einen kleinen Spionageauftrag gefasst. Er soll im britischen Verteidigungsministerium mit seinen Tausenden von Beamten ein Leck finden, durch das dem deutschen Feind Informationen zufliessen: «Er spähte in einen Raum, dessen Tür halb offen stand, und sah drei Offiziere, die gleichzeitig telefonierten. Zwei Sekretärinnen, die auf ihre Schreibmaschinen hämmerten …» Fünf potenzielle Verdächtige nur in einem grandiosen Bürokratenheer der Militaristen, in dem jede und jeder Verräter sein könnte.
Fast ein Bond
Das ist eine Szene aus dem neuen Roman «Eine grosse Zeit» des englischen Erfolgsautors William Boyd. Die Geschichte spielt zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Wien, Genf und London. Der Held Lysander Rief ist zunächst ein naiver Geck, «auf konventionelle Weise geradezu gut aussehend». Und er endet als abgeklärter Intrigant im Spiel der Geheimdienste – eine Art Bildungsroman in der Spionagebranche.
Der 60-jährige schottische Schriftsteller Boyd ist in Ghana zur Welt gekommen. Er studierte in Glasgow und Oxford, wo er später als Dozent lehrte. Boyd gehört zu jener Generation Briten, die noch in der Tradition des Kolonialreichs stehen, auch wenn dieses längst Vergangenheit ist. Dieser Verlust manifestiert sich bei ihm nicht im «Jingoism», der englischen Version des Hurra-Patriotismus, sondern in bissiger Ironie – wir möchten Weltmacht sein, warum nur nimmt uns niemand ernst?
Boyds neuer Held Rief erinnert zwar an einen Ur-James Bond im Dienst des Empires, einzig mit den sexuellen Eskapaden will es nicht so recht klappen. Ausgerechnet eine kleine Störung in dieser heiklen Zone verhilft ihm jedoch zur dubiosen Agentengeschichte: Lysander Rief muss sich nämlich am Vorabend des Kriegs in Wien bei einem Jünger von Sigmund Freud wegen einer lästigen sexuellen Blockade behandeln lassen. Danach klappts besser denn je, es kommt zu einer erotischen Verwicklung, in deren Folge Rief der Heimat einen Dienst schuldet – und schon ist er als Geheimagent rekrutiert. Erster Einsatzort für 007-Rief ist Genf. Sein Einstand misslingt allerdings gründlich: Er kriegt von einer Agentenkollegin ein paar Pistolenschüsse auf den Pelz gebrannt. Die Weiterungen dieser verzwickten Geschichte seien nicht verraten – sie könnten nicht spannender sein.
Dieses Buch ist mehr als ein Agententhriller: Wie in allen seinen Romanen spielt William Boyd mit der Historie. Lysander Rief irrt mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts, sei es in der Bohème von Wien, sei es in der vom Krieg umzingelten Stadt Genf oder in der düsteren Metropole London.
Grossartige Parodie
Der Roman ist flüssig geschrieben, die Handlung erinnert streckenweise an die Romane von Graham Greene oder John LeCarré, ist allerdings um etliches verwobener. So rät der Wiener Psychiater Lysander Rief, ein Tagebuch zu führen. Damit liest der Leser die Geschichte aus der Sicht des Erzählers und des Helden – und ihren unterschiedlichen Perspektiven. Das Buch ist eine grossartige Parodie auf ein absolutes Wahrheitsverständnis: Eine Bettgefährtin des Helden flüstert einmal, «wir spielen schliesslich alle Theater, oder nicht? Fast pausenlos – jeder von uns.»
[Buch]
William Boyd
«Eine grosse Zeit»
445 Seiten
(Berlin Verlag 2012).
[/Buch]