Wien lebt und pulsiert. Wien klingt und riecht. Wien schläft zuweilen auch und versinkt dann sogar fast in Schweigen. Wer nachts auf einer Parkbank sitzt, hört die Mäuse rascheln in den Büschen – und die Gedanken all jener, die früher auf der Bank gesessen sind.
Wer dies nicht glauben mag, lese den Roman «Hermelin auf Bänken» von Patrick Holzapfel, der kürzlich auf Platz 1 der Bestsellerliste gelandet ist. Der 35-jährige Augsburger lebt seit Jahren in Wien, wo er als Filmer und Blogger arbeitet, als Kulturjournalist unter anderem für die NZZ schreibt und nun als Literat debütiert.
Holzapfel weiss: «Man muss sich immer wieder das Gleiche ansehen. Immer wieder. Man wird merken, dass es sich ständig verändert. Bis es sich nicht mehr verändert. Dann muss man sich etwas anderes ansehen.»
Dies praktiziert er nun ein ganzes Buch lang, indem er einen Ich-Erzähler, der ihm in wesentlichen Punkten ähnelt, während eines Jahresablaufs auf 32 Bänken an verschiedenen Orten in Wien sitzen lässt. Nicht nur für ein Momentchen, sondern bis zu 22 Stunden lang.
Banksitzen wird zur Bestimmung
Erstmals tut er dies, als er sich zum Hermelinkönig setzt, der dem Buch den Titel gibt. Neben diesen «König der Sandler», also der Obdachlosen, der ihn fasziniert, den er aber bald wieder aus den Augen verliert. Er wartet auf der immerselben Bank auf ihn, und aus diesem Banksitzen wird ein Spleen, eine Manie, schliesslich seine Bestimmung. «Immerhin weiss ich jetzt, was ich bin: ein Bankier, denn ich bankiere.» – «Ich flaniere sitzend. Ich bin ein Müssigsitzer.»
Das sitzende Flanieren gelingt ihm, indem er beobachtet und notiert. Indem er Leute kennenlernt wie den Toni, der lieber am Boden sitzt, die Cinderella, von der «jedes Wort, das sie sagt, ein bisschen vergeblich wirkt, aber umso schöner, weil sie es trotzdem gesagt hat».
Seinen Freund Prince und schliesslich die Annemarie. Weit öfters ist seine Mutter mit ihm, die zwar kürzlich gestorben ist, was aber nichts zu bedeuten hat, denn: «Die Bank tritt sozusagen aus dem Strom der Zeit.» Deshalb trifft der Bankier auch den längst toten Kollegen Thomas Bernhard und wartet auf Sigmund Freud.
Patrick Holzapfels Roman ist ein Journal mit exakten Angaben zu Wiens verschiedenen Bank-Typen, das sich gar als alternativer Reiseführer nutzen liesse. Dazwischen schmiegen sich die Beobachtungen des Bankiers, die schliesslich münden in der Erkenntnis: «Man darf nicht zu lange bankieren, sonst wird man sesshaft.»
Patrick Holzapfel
Hermelin auf Bänken
166 Seiten
(Rohstoff 2024)