Der namenlose israelische Historiker stand vor einer glänzenden Karriere als KZ-Experte. Doch plötzlich schlug er einem deutschen Klienten in Treblinka die Nase blutig. Nun erklärt er in einem Brief, wie es dazu kam. Das ist das Gerüst des neuen Romans des 54-jährigen Autors und Anwalts Yishai Sarid.
Der junge Mann spezialisierte sich notgedrungen auf den Holocaust. Der Dekan seiner Universität bezeichnete dies als «einzige realistische Möglichkeit, in Israel als Historiker zu leben». Um seine Familie durchzubringen, beginnt er, israelische Schülergruppen durch die Gedenkstätten in Osteuropa zu führen. Bald avanciert er zum Guide israelischer Soldaten und selbst des Verkehrsministers.
Anfangs will der Historiker bei der Arbeit sich selbst «ganz ausklammern». Doch er unterschätzt das Monster. So nennt er den Holocaust, aber auch das Erinnern an ihn. In Majdanek belauscht er israelische Schüler, die sich zuflüstern: «Araber, so müsste man es mit den Arabern machen.» Ihn irritiert, dass der Hass nicht den Mördern gilt, sondern den Opfern und den kollaborierenden Polen. Insgeheim bewundern die Jugendlichen die Deutschen für «die Entschlossenheit, für den Glanz und Schneid, für die letzte gezielte und grausame Aktion». Ein Schüler spricht aus, was die meisten denken: «Zum Überleben müssen wir auch ein bisschen Nazis sein.»
Glaube an Macht wirkt stärker als Mitgefühl
Die ständige Präsenz des Holocausts verändert auch den Protagonisten. Er stösst Gruppen mit harschen Aussagen vor den Kopf: «Wärt ihr desertiert?», fragt er israelische Soldaten. Und: «Würdet ihr bereuen, wenn eure ewigen Feinde vom Erdboden verschwunden sind, ohne dass ihr etwas tun musstet?» Er konfrontiert Schüler: «Was hättet ihr getan, wenn ein verfolgter jüdischer Junge vor der Tür eures polnischen Hauses gestanden wäre? Wärt ihr bereit, für ihn zu sterben?» Er trennt nicht mehr sauber zwischen Tätern und Opfern, verfällt in ein Denken aus Sozialdarwinismus, Ökonomie und Hass. Die perfide Logik des Lagersystems hat ihn angesteckt.
Der grossartig schonungslose Roman spielt durch, was passiert, wenn bald die letzten Überlebenden nicht mehr da sind. Die Appelle, Lehren aus Auschwitz zu ziehen, stellen für den Autor an sich keinen Wert dar. Denn die Erinnerung an den Holocaust vergifte weiterhin Seelen und lasse sich missbrauchen. Für Sarid ist klar: Die heutigen Erinnerungsrituale der israelischen Gesellschaft übertünchen das Trauma des Landes oft mehr, als es zu benennen. Sie stärken bei der israelischen Jugend weniger das Mitgefühl mit den Gepeinigten, sondern ihren Glauben an Kraft und Macht, an das Zuschlagen ohne Gewissen. Das Trauma werden sie so nicht los. Der Schrecken lebt weiter.
Buch
Yishai Sarid
Monster
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
176 Seiten
(Kein & Aber 2019)