«Was sie wollte, spielte keine Rolle mehr.» Mit diesem beklemmend nüchternen Satz bringt Didier Eribon das traurige Schicksal seiner Mutter auf den Punkt. Nachdem sie mit 87 Jahren in ein Pflegeheim in der Champagne kommt, verliert sie ihre Autonomie, ihre Freiheit und schliesslich den Lebens willen. Ihr Sohn, der in Paris wohnt, nimmt sich vor, sie so oft wie möglich zu besuchen, doch er sieht sie nur noch zweimal – sieben Wochen nach dem Einzug ist sie tot.
Kritik am Umgang mit Alter und Krankheit
Wie in seinem gefeierten Debüt «Rückkehr nach Reims», einem autobiografischen Rückblick auf seine Kindheit als schwuler Sohn einer Arbeiterfamilie, reflektiert der französische Soziologe und Philosoph anhand von persönlichen Erfahrungen gesellschaftliche Zusammenhänge. Im neuen Buch «Eine Arbeiterin» skizziert Eribon den Lebensweg seiner Mutter. Im Waisenhaus aufgewachsen, fing sie schon mit 14 Jahren an zu arbeiten, zunächst als Dienstmädchen und Putzfrau, später als Fabrikarbeiterin und Hausfrau.
Anhand ihrer individuellen Geschichte rückt der Autor das Schicksal vieler alter, pflegebedürftiger Menschen, deren Sterben und Tod in den Fokus. Er kritisiert den Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens in Frankreich und den gesellschaftlichen Umgang mit Alter und Krankheit. Treffend schildert er die triste Realität in den oft notorisch unterbesetzten und unterfinanzierten Altersheimen, in denen Betagte, herausgerissen aus dem Kontext ihrer früheren Lebensrealität, in einer «erzwungenen Gemeinschaft» zusammenleben.
Für die meisten ist es ein radikaler Einschnitt. Auch Eribons Mutter wehrt sich, wird oft wütend, weint. Der Autor macht die Schwermut, die Angst und die Einsamkeit der gesellschaftlich ausgegrenzten Menschen spürbar. Dabei beschönigt er nichts, beschreibt Alltagsszenen, etwa die mühselige Suche nach dem passenden Heim, die ständigen Streitereien mit seinen Brüdern, die rassistischen Äusserungen der Mutter. Es sind Episoden und Erinnerungen, die zeigen, wie Familie und Herkunft die eigene Identität prägen.
Dabei wiederholt Eribon teilweise die Thesen aus seinem ersten Buch, zitiert Philosophen und Schriftsteller wie Norbert Elias und Simone de Beauvoir, Pierre Bourdieu und Bertolt Brecht, die sich in ihren Werken mit Alter und Tod auseinandergesetzt haben. Mancher Gedankengang klingt abgehoben, fast elitär, ähnlich wie bei Daniel Schreiber und Édouard Louis, die ebenfalls gesellschaftliche anhand privater Probleme sichtbar machen.
Ein längst fälliger gesellschaftlicher Diskurs
Dennoch berührt Eribons Anliegen, nicht nur vom Leben der eigenen Mutter zu erzählen, sondern auch anderen Menschen aus prekären Verhältnissen eine Stimme zu geben. Und so hat seine Schilderung individueller Erfahrungen mit dem Umgang mit alten Menschen im engen familiären Kreis das Potenzial, einen überfälligen gesellschaftlichen Diskurs anzustossen – weit über Frankreich hinaus.
Buch
Didier Eribon
Eine Arbeiterin – Leben, Alter und Sterben
Aus dem Französischen von Sonja Finck
272 Seiten
(Suhrkamp 2024)