Immer wieder bricht sie ab und schickt ihn weg. Erschöpft sei sie, sagt Anouk Perleman-Jacob. Die Stararchitektin mit russischen Wurzeln ist gerade 100 geworden und hat Autor Michael Köhlmeier nach einem zufälligen Treffen zu Gesprächen in ihre Villa im noblen Wiener Vorort Hietzing geladen. Sie wolle ihm ihr Leben erzählen, auf dass er darüber schreibe, sagt die resolute Dame und liefert eine neckische Begründung: «Ich weiss, dass Sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien wahr.»
Die «Philosophenschiffe» gab es tatsächlich
Was sich liest wie der Einstieg zu einer erhellenden Reportage, bezeichnet der 74-jährige Vorarlberger Vielschreiber Köhlmeier explizit als Roman – obwohl er selbst darin eine Hauptrolle spielt und das erzählte Leben der Jahrhundertzeugin auf historischen Tatsachen beruht. Sie selbst aber ist eine fiktive Figur. Das irritiert vorerst kaum. Denn was die rauchende Greisin zu berichten hat, ist spannend.
Als 14-Jährige sei sie mit ihren Akademikereltern aus dem revolutionären Russland ausgewiesen und auf eines der sogenannten «Philosophenschiffe» verfrachtet worden, mit anderen unerwünschten Subjekten, die zu erschiessen sich nicht lohnte, wie sie von der Geheimpolizei Tscheka erfahren habe. Die Hundertjährige erzählt in virtuos verschachtelten Rückblenden von Begegnungen mit dem Dichter Nikolai Gumiljow, dem Attentäter Leonid Kannegiesser und Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin.
Diesen habe sie auf besagtem Schiff getroffen, erzählt Anouk Perleman-Jacob pointenreich. Köhlmeier lauscht gebannt und bespricht das Gehörte in abendlichen Telefonaten mit seiner Frau Monika, auch sie real existierend.
Die Wahrheit verzettelt sich mit der Zeit
Als Köhlmeier in der Bibliothek auf einen Widerspruch zur Erzählung der alten Dame stösst, konfrontiert er sie damit. «Ich habe die Wahrheit ein bisschen von mir wegerfinden wollen», gesteht sie freimütig und schickt den Dichter schliesslich an sein Schreibwerk: «Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.»
Dieser doppelte Salto ist der Kernsatz des Romans von Michael Köhlmeier. Sein «Philosophenschiff» wird zur Lesereise, die an Eckpunkte literarischen Erzählens gelangt: Wahrheit und Lüge, Realität und Fiktion. «Ein bisschen mehr Wahrheit bin ich Ihnen schuldig», sagt Anouk Perleman-Jacob einmal. Aber auch: «Erinnern macht müde!», was zur Folge habe, dass sich die Wahrheit mit der Zeit in zunehmender Wandelbarkeit verzettle.
Wer Freude an solchen philosophischen Kabinettstückchen hat und historisches Interesse mitbringt, findet im Buch «Das Philosophenschiff» eine belebende Herausforderung.
Lesung
Di, 20.2., 19.30
Theater Kosmos Bregenz (A)
Buch
Michael Köhlmeier
Das Philosophenschiff
224 Seiten
(Hanser 2024)