Roman: Den Panzer abwerfen
Von Familie, Freiheit und modernen Lebensmodellen erzählt die Autorin Caroline Albertine Minor in ihrem ersten Roman «Der Panzer des Hummers».
Inhalt
Kulturtipp 19/2021
Babina Cathomen
Der Hummer wirft seinen Panzer ab, wenn er ihm zu eng wird, und wartet in der Dunkelheit – «nackt und verletzlich» –, bis ihm eine neue, passendere Hülle gewachsen ist. Dieses tierische Phänomen hat Caroline Albertine Minor zum Titel ihres ersten Romans inspiriert. In ihrem Buch verkündet ein Rabbi in einer Videobotschaft diese Allegorie aufs Menschsein: Auch der Mensch muss trotz des schmerzhaften Prozesses manchmal seinen Schutzpanz...
Der Hummer wirft seinen Panzer ab, wenn er ihm zu eng wird, und wartet in der Dunkelheit – «nackt und verletzlich» –, bis ihm eine neue, passendere Hülle gewachsen ist. Dieses tierische Phänomen hat Caroline Albertine Minor zum Titel ihres ersten Romans inspiriert. In ihrem Buch verkündet ein Rabbi in einer Videobotschaft diese Allegorie aufs Menschsein: Auch der Mensch muss trotz des schmerzhaften Prozesses manchmal seinen Schutzpanzer abwerfen, um zu wachsen. Niels, der sich das Video anschaut, ist zwar skeptisch gegenüber plakati-ven Botschaften, nichtsdestotrotz kennt er den Wachstumsschmerz aus eigener Erfahrung.
Niels ist der Jüngste der dänischen Familie Gabel in Minors Roman – und ein Freigeist. Er zieht in der Welt herum, lässt sich nach seinen eigenen Bedürfnissen treiben und hat dennoch seine soziale Ader nicht verloren. So besucht er regelmässig die einsame, dem Alkohol zugeneigte Tante im Altersheim oder hilft seiner alleinerziehenden Schwester Sidsel in Kopenhagen. Die dritte des Geschwistertrios lebt am anderen Ende der Welt: Ea hat sich in San Francisco mit ihrem Lebensgefährten und dessen Tochter ein neues Leben aufgebaut, verspürt aber in letzter Zeit eine diffuse Unruhe, die sie in die Arme einer Hellseherin treibt: Diese soll Kontakt mit ihrer verstorbenen Mutter aufnehmen. Bei der Sitzung läuft aber etwas schief: Aus dem Jenseits drängt sich – wie schon zu Lebzeiten – der Vater in den Vordergrund.
Eine in alle Winde zerstreute Familie
Die 33-jährige Autorin aus Kopenhagen schildert diese Familiengeschichte auch mit einem Augenzwinkern und spannt ein dichtes Beziehungsnetz rund um die drei Geschwister. Die Kapitel sind aus unterschiedlicher Perspektive erzählt, und so erhalten auch vermeintliche Nebenfiguren wie die Seherin Beatrice viel Raum. Die Handlung über fünf Tage gibt einen kleinen Einblick in diese in alle Winde zerstreute Familie; Personen und Orte wechseln in raschem Tempo. Der Roman steuert denn auch weniger auf einen Höhepunkt zu, sondern ist eher eine Bestandsaufnahme der verwickelten Situation. Das Ende kommt reichlich abrupt, einige lose Fäden werden nicht zusammengeführt, und vieles bleibt in der Schwebe – aber schliesslich läuft auch das echte Leben oft nicht nach fixem Plan. Minor lässt interessante Themen anklingen – Liebe, Leben, Freiheit, Tod, die Verletzlichkeit des Menschen und die Bedeutung von Familie. Besonders das Thema Elternschaft beleuchtet sie aus unterschiedlicher Perspektive und entwirft ein schillerndes Panoptikum moderner Lebensmodelle.
Buch
Caroline Albertine Minor
Der Panzer des Hummers
336 Seiten
(Diogenes 2021)