Im März 1956 gönnt sich Josef Mengele eine Pause vom Exil. Er fliegt von Buenos Aires in die Schweiz. Zehn Tage lang fährt er in Engelberg Ski. Zu befürchten hat er nichts, obwohl sein Name auf der Kriegsverbrecherliste steht. Der Arzt hat in Auschwitz 400 000 Menschen ins Gas geschickt und Kinder und Kleinwüchsige bei Experimenten gefoltert, ermordet und seziert.
Der Skiurlaub ist nur ein Detail, mit dem Olivier Guez in seinem Buch über Mengeles Nachkriegsleben aufwartet. Der französische Autor hat intensiv recherchiert und Zeitzeugen interviewt. Er folgte Mengeles Spuren in Südamerika und im schwäbischen Günzburg, seinem Geburtsort. Die Fakten verknüpft er mit Fiktion zu einem Tatsachenroman.
Warnung vor der Wiederkehr des Ungeistes
Das Buch ist ein Überraschungserfolg und wurde in über 26 Sprachen übersetzt. Dies liegt wohl auch daran, dass der KZ-Arzt als Inbegriff des Nazi-Mörders und des Bösen schlechthin gilt. Guez deutet seine Geschichte geschickt als Warnung vor der Wiederkehr des Ungeistes.
Das Buch zeigt, wie der Mörder unbehelligt blieb. 1949 liess Mengele sich unter falschem Namen in Argentinien nieder. Diktator Juan Perón hiess NS-Verbrecher willkommen. Mengele avanciert zu einer Hauptfigur der «Nazi-Society» von Buenos Aires. Er leitet eine Möbelfabrik, nimmt illegale Abtreibungen in der Oberschicht vor, verkauft Landmaschinen. 1956 fühlt er sich so sicher, dass er im westdeutschen Konsulat seinen echten Namen angibt, als er Pass und Geburtsurkunde beantragt. Er heiratet Martha, die Frau seines verstorbenen Bruders, und bezieht eine Villa. Im Telefonbuch steht sein Name, doch kein Strafverfolger interessiert sich für ihn. Guez empört zu Recht, wie die westdeutsche Justiz NS-Ärzte und andere Kriegsverbrecher durch Wegschauen schützte. Für ihn ist die angebliche «Aufarbeitung» der NS-Gräuel eine deutsche Lebenslüge.
Eine Schwäche des Buches ist, dass Olivier Guez oft – wenig erhellend – aus Mengeles Perspektive erzählt. Mengele geriert sich nur als empathieloser Narzisst, der seine wissenschaftliche Ruhmsucht und Brutalität im KZ auslebt. Was ihn und andere NS-Mörder im Inneren antrieb, bleibt nebulös.
Verklärung eines banalen Verbrechertodes
Eine zweite Schwäche des Romans ist der Auftritt eines allwissenden Erzählers. Dieser nennt Mengele hochtrabend «Fürst der europäischen Finsternis» und erklärt seine Grausamkeit mit «Charakterschwächen». Die Verbreitung der NS-Ideologie führt er auf die «Moderne» zurück, welche die Gesellschaft «verstörte». Kurz: Der Autor bietet zu einfache Erklärungen.
Den Schluss lädt er moralisch auf. 1960 schnappt der Mossad in Argentinien den Mitorganisator des Holocausts, Adolf Eichmann. Mengele verkriecht sich im Dschungel Paraguays und Brasiliens. Gegen Geld beherbergt ihn eine Bauernfamilie. Er lässt neben ihrem Hof einen Wachturm bauen, wittert überall Verrat. Der Elite-Nazi und selbst ernannte «Ingenieur der Rasse» verliert seine Selbstgewissheit. Übrig bleibt ein krankes Nervenbündel. 68-jährig ertrinkt Mengele bei São Paulo. Der Autor deutet das als Schlusspunkt einer «Höllenfahrt», als ob eine höhere Instanz doch noch für Gerechtigkeit gesorgt hätte. So verklärt er den banalen Tod eines Verbrechers, der ungestraft davonkam.
Buch
Olivier Guez
Das Verschwinden des Josef Mengele
Aus dem Französischen von Nicola Denis
224 S. (Aufbau 2018)