Wie Zwillingsbrüder wachsen der Ich-Erzähler und sein Nachbar Frank in einem Mietshaus im Ruhrgebiet auf. Das miefige Kleinbürgertum der 60er- und 70er-Jahre ist beengend für Frank, der leidenschaftlich für die Kunst entbrennt, als er eine Werkschau von Sigmar Polke besucht.
Sein Freund kann dessen Begeisterung zwar nicht teilen, versteht aber, «wie gut diese düstere, pastose Malerei zu Frank passte». Zu eng wird es spätestens beim «Skandal um Frank», den der Erzähler in seinem Rückblick schon am Anfang erwähnt. Denn Frank ist homosexuell und erfährt mit seinem Liebhaber, dem Roma Matteo, ein brutales Coming-out, als sie vor versammelter Hausgemeinschaft blossgestellt werden.
«Einer wie Frank hatte bei uns genauso wenig verloren wie die Zigeuner», heisst es lapidar. Die 60er und 70er waren in diesem Milieu von Kleingeistigkeit geprägt, das macht Alain Claude Sulzer in wenigen Strichen sowohl durch die Sprache als auch durch das gezeichnete Ambiente deutlich.
Der Erzähler verpasst es, seinem Freund beizustehen, und ihre Wege trennen sich, auch wenn die Verbindung nie ganz abreisst. Frank wandert nach New York aus, wo er wie ein Besessener malt – allerdings erfolglos – und sich in der Schwulenszene der 80er austobt. Die beiden sehen sich erst im Spital in Deutschland wieder, wo der an Aids erkrankte 32-jährige Frank liegt, der ihm sein ganzes Werk vermacht.
Auch ein Künstlerporträt eines Aussenseiters
Beim inzwischen 65-jährigen Ich-Erzähler schwingt im Rückblick immer auch Reue mit. Denn er ist weder neugierig noch an Franks Kunst interessiert. Das Werk vergisst er in seiner Remise in Südfrankreich jahrzehntelang, bis die Bilder mysteriöserweise in einer Berliner Galerie auftauchen und der unbekannte Künstler als Genie gefeiert wird.
Erst durch diesen Aussenblick kommt er seinem verstorbenen Jugendfreund noch einmal nahe. Der Basler Autor Alain Claude Sulzer, der schon im Vorgängerroman «Doppelleben» über die enge Männerverbindung der Brüder Goncourt geschrieben hatte, widmet sich im neuen Buch der Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Männer.
Der Erzähler, der eine Karriere als Filmer macht, betrachtet die Welt aus einem ganz anderen Blickwinkel als Frank, der sich in die Untiefen des Lebens stürzt und seinen Leidenschaften radikal frönt.
«Fast wie ein Bruder» ist so auch ein Künstlerporträt eines Aussenseiters, das in Kontrast steht zum bürgerlichen Leben des Ich-Erzählers, dem die Welt seines Freundes im Innersten fremd geblieben ist. Ein Roman, der beim Lesen einen Sog entwickelt – und unvermittelt und nicht ohne Irritationen endet.
Lesungen
Mi, 18.9., 19.00
Literaturhaus Basel
Do, 10.10., 19.30
Literaturhaus Zürich
Buch
Alain Claude Sulzer
Fast wie ein Bruder
192 Seiten
(Galiani 2024)