Ostanatolien, 1990: Die Ich-Erzählerin verbringt unbeschwerte Sommerferien im Dorf ihrer Grosseltern Dede und Nene. Mit ihren Cousinen streift sie durch den Garten mit den Aprikosenbäumen, die Tanten backen knuspriges Fladenbrot im Tandir, dem im Boden versenkten Backofen aus Ton. Nene erzählt den Kindern Geschichten, und Dede jagt ihnen schimpfend hinterher, wenn sie auf dem Feld die schönste Wassermelone klauen.
Die in Luzern aufgewachsene Autorin und Heilpädagogin Özlem Çimen erzählt ihre eigene Familiengeschichte im Roman «Babas Schweigen» mit Sinnlichkeit und Zärtlichkeit. Hinter der sommerlichen Leichtigkeit ist bei den Erwachsenen stets eine Melancholie spürbar, die sie als Kind nicht einordnen kann. Erst viel später erfährt sie, dass der Ort einst von Armeniern bewohnt war und ihre Familie zu einer kurdischen Minderheit gehört.
Und was es mit den Geschichten über den roten Fluss und den Klageliedern über die Toten auf sich hat. In wechselnden Kapiteln zwischen der Kindheit, 2013 und 2022, als sie mit ihrem Mann auf Besuch im Heimatdorf ist, geht sie den dunklen Stellen der Vergangenheit nach.
Die Sprache Zazaki war verboten
Sie recherchiert und fragt auch ihren Baba, den Vater, nach der Geschichte des Dorfs Dersim, wo kurdische Zaza und Armenier friedlich zusammenwohnten, bis Anfang des 20. Jahrhunderts die Vertreibung und Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich begannen. Die Zaza wurden später einer Assimilationspolitik unterzogen und ihre Sprache verboten.
«Es gibt sehr wenig Literatur zur Geschichte Dersims. Die Traumata von damals werden schweigend von Generation zu Generation weitergegeben», sagt Çimen auf Anfrage. Ursprünglich wollte sie die Familiengeschichte nur für ihre Kinder auf Papier bringen. «Irgendwie war ich ihnen eine Erklärung schuldig. Und ich wollte aus diesem Schweigen, das mich starr machte, ausbrechen. Das konnte ich nur, indem ich die Geschichte der nächsten Generation weitererzähle.»
Diese Geschichte, die für viele ähnliche Schicksale steht, erzählt die 43-Jährige in «Babas Schweigen» mit Poesie und Humor. Sie lässt die dunklen Seiten immer wieder aufblitzen, aber nicht überhandnehmen. Die Geborgenheit der Dorfgemeinschaft, die sie bei ihren Besuchen spürt, hat genauso Platz wie die Erzählungen von Gewalt und Zerstörung. Diese kommen im Buch etwa durch den kurdischen Liedtext des armenischen Komponisten Aram Tigran, dessen Vater als Einziger der Familie den Genozid überlebte, zum Tragen.
Durch die Beschäftigung mit ihrer kurdischen Ursprungskultur, die ihr lange verborgen geblieben ist, hat Çimen eine neue Identität und die Sprache ihrer Grosseltern entdeckt. «Ich werde Zazaki nie wie eine Muttersprachlerin sprechen können. Aber ich wollte wissen, wie der Klang und die Grammatik sind.» Im Buch erklingen die Kapiteltitel auch auf Zazaki.
«Wer interessiert sich für uns?»
Ihre Verwandten haben erst zurückhaltend auf ihre Idee reagiert, die Familiengeschichte aufzuschreiben. «Wozu? Wer interessiert sich für uns?», habe Baba gefragt. Aber die Familie stehe hinter ihr, sagt sie. «Die Schleuse ist geöffnet, doch es braucht Mut, offen über etwas zu sprechen, worüber so lange geschwiegen wurde.»
Mit ihrem Mann liest sie auch den beiden Kindern aus dem Buch vor. «Sie stellen kritische Fragen, und wir diskutieren darüber.» Das grosse Schweigen, das hat Özlem Çimen mit ihrem Buch durchbrochen.
Lesungen
So, 7.4., 17.00 Terranova Bücherparadies im Himmelrich Luzern
Di, 23.4., 19.30 Bücher Balmer Zug
Sa, 27.4., 20.30 Schlachthaus Theater Bern (zusammen mit Yusuf Yesilöz am Festival Aprillen)
Buch
Özlem Çimen Babas Schweigen 120 Seiten (Limmat 2024)
Lange Nacht der Debüts
Neue Stimmen entdecken Wenn der Frühling in der Luft liegt, präsentieren die Verlage mit den Neuerscheinungen der Saison frischen Lesestoff. Besonders schön, wenn es darunter neue Stimmen zu entdecken gibt, die Gesellschaftsfragen auf andere Weise verhandeln.
Die Lange Nacht der Debüts im Literaturhaus und im Cabaret Voltaire in Zürich stellt in Lesungen und Gesprächen sechs Schweizer Autorinnen und Autoren mit ihren ersten Büchern vor, darunter Özlem Çimens «Babas Schweigen».
Zudem zu Gast sind: Corinne Ammann mit dem Roman «über leben», in dem sie anhand der Sehnsüchte und Ängste einer Schweizer Familie die ländliche Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts beschreibt.
Laura Leupi, die in Klagenfurt für «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt» mit dem renommierten 3sat-Preis ausgezeichnet wurde – ein autofiktionales Werk, in dem sie eine Sprache sucht für eine Vergewaltigung.
Nadine Olonetzky mit ihrer jüdischen Familiengeschichte «Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist».
Lorena Simmel mit dem Roman «Ferymont», einer Geschichte über Saisonarbeiterinnen in der Schweiz und prekäre Arbeitsbedingungen.
Und Levin Westermann mit dem Roman «Zugunruhe» über die Zerstörungswut der Menschen.
Lange Nacht der Debüts
Mi, 10.4., ab 19.30 Literaturhaus und Cabaret Voltaire Zürich