Auszeichnungen bescheren den Geehrten nebst Geld auch Ruhm. Aber das kann heikel werden. Wie etwa knüpft eine Autorin an einen Roman an, der gleich zwei grosse Preise gewonnen hat? Melinda Nadj Abonji (49) hat diese Herausforderung bravourös gemeistert. Nach ihrem autobiografischen Roman «Tauben fliegen auf», der 2010 den Deutschen und den Schweizer Buchpreis gewann, legte die Zürcher Autorin erstmals eine Pause ein. Sie holte ihre Geige hervor, tat sich mit Musikern zusammen, trat als Performerin in Erscheinung.
Zwei Ich-Erzähler – zwei verschiedene Sprachen
Sie schrieb auch Stücke: 2014 etwa war am Theater Basel «Schildkrötensoldat» zu sehen. Nadj Abondji arbeitete weiter an diesem Text. Nun erscheint er – sieben Jahre nach «Tauben fliegen auf» – als Roman. Er führt in einen ähnlichen literarischen Dunstkreis wie die preisgekrönte Kindheitserinnerung: Nadj Abonji pendelt zwischen alter und neuer Heimat, zwischen Ex-Jugoslawien und Zürich. Doch was und wie sie schreibt, klingt gänzlich anders.
Sie erzählt von Anna, die als Lehrerin in Zürich arbeitet und sich an Zoli erinnert, der weit mehr war als ihr Lieblingscousin: «Obwohl ich älter war, hatte ich immer eine bestimmte Furcht vor dir. Trotzdem habe ich es zugelassen, dass deine zuckerstaubigen Lippen meine berührt haben.» Zoli stirbt sehr jung und kurz nach seinem Einzug in die «jugoslawische Volksarmee». Allerdings wird er gar nicht erst an die Front geschickt. «Der Gemütszustand von Kertész Zoltán ist unterdurchschnittlich», heisst es im amtlichen Dokument, das Epilepsie diagnostiziert.
Dagegen Annas poetische Erinnerungen: «Er nahm alles auf, was da war, und dazu gehörte auch das Verborgene (…). Sein Blick wusste etwas, was wir anderen nicht wussten.» Auch Zoli schreibt über sein Anderssein: «ich bin die Sonne im Garten, die Lichtflecken auf den frühen Morgenblättern, der tröpflende Regen, das bin ich.» Während seiner kurzen, heftigen Zeit in der serbischen Kaserne klingt es dann so: «ich beisse mir auf die Lippen, damit nichts, aber auch gar nichts über meine Lippen kommt, kein Schrei, kein Lied, nichts, ganz bestimmt ist aber alles in mir enthalten, für immer.»
Annas Erinnerungen nach Zolis Tod und der Bericht ihrer Reise zurück ins kriegerische Serbien durchsetzt Melinda Nadj Abonji mit Zolis Tagebüchern. Der Roman hat somit zwei Ich-Erzähler, was nur so lange irritiert, bis man die verschiedenen Sprachen erkennt. Die beiden Stränge sind verschränkt wie Wollknäuel, folgen einer inhaltlichen, aber keiner zeitlichen Logik. Trotz dieser komplexen Konstruktion liest sich das Buch leicht – der rhythmischen Sprache sei Dank.
Melinda Nadj Abonji ist ein hochpoetischer Roman gelungen, ein Langgedicht vielmehr, mit dem sie ein Schicksal des Andersseins erzählt. Vor allem aber schreibt sie an gegen die Borniertheit einer plötzlich entwerteten Gesellschaft: Das nationalistische Serbien der frühen 90er, dessen Gift vieles infiziert hat. Ein wunderbares Buch, das den eigentlich simplen Zauber der Menschlichkeit postuliert.
Lesungen
Buch
Melinda Nadj Abonji
Schildkrötensoldat
173 Seiten
(Suhrkamp Verlag 2017).