So könnte dereinst die Zukunft aussehen: «Wir werden lernen, den Planeten mit nicht biologischen Lebensformen zu teilen, die von uns geschaffen wurden.» Mehr noch: «Wir werden das All kolonialisieren.» Diese Prognose wagt der US-amerikanische Wissenschafter Victor Stein, der sich mit Künstlicher Intelligenz befasst. Der fiktive Forscher ist eine der ungewöhnlichen Figuren, die den Roman «Frankissstein» der Autorin Jeanette Winterson bevölkern. Sie ist in diesem Buch dem Leben auf der Spur, indem sie in ihrer fiktionalen Welt eine Künstliche Intelligenz erschafft.
Was reichlich abstrakt erscheint, ist mitunter sehr deftig – mit viel Sex in allen Varianten. In der Zukunft und in der Vergangenheit, wo die romantische Schriftstellerin Mary Shelley mit Freunden am Genfersee weilt. Sie schreibt verzweifelt an dem Roman «Frankenstein», um ihre drückenden finanziellen Sorgen zu lindern: «Das Monster, das ich schuf, wird von den Menschen gemieden und gefürchtet. Seine Andersartigkeit ist sein Verderben.»
Die Begierden des Transgender-Doktors
Wenn Mary Shelley nicht gerade am Schreiben ist, vergnügt sie sich mit ihrem geliebten Ehemann Percy Shelley, dem kämpferischen Atheisten, mit dem sie aus England auf den Kontinent durchgebrannt ist: «Mit einer zarten Bewegung rollte Shelley mich auf den Rücken und drang sanft in mich ein … ein Vergnügen.»
Parallel dazu erzählt Winterson vom jungen Arzt Ry Shelley, der als Frau zur Welt kam und sich jetzt als Mann fühlt: «Ich bin gern in einem Männerkörper und würde das nicht ändern – zumindest nicht, bis ich überhaupt keinen Körper mehr brauche.» Mit anderen Worten: Der menschliche Geist ist nicht zwingend an einen biologischen Körper gebunden. Genau dieser These geht der Forscher Victor Stein nach, dessen Name den Leser an das Monster von Mary Shelley und eine Horrorverfilmung gemahnt. Transgender-Doktor Ry Shelley hat indes sehr leibliche Begierden und verliebt sich in Stein.
Die 60-jährige Winterson gehört in Grossbritannien zum Inventar der Literaturszene. Sie verbrachte ihre Kindheit bei pietistischen Adoptiveltern und erkannte in der Pubertät ihre lesbischen Neigungen. Seither setzt sie sich in ihren literarischen Texten mit allen Formen der Gender-Diskriminierungen auseinander. Winterson ist mit einer Psychotherapeutin verheiratet und lehrt kreatives Schreiben an der Universität von Manchester.
Einer ernsten Sache mit viel Witz begegnen
Die Autorin verknüpft im Buch die sexuelle Orientierung ihrer Protagonisten mit futuristischen Vorstellungen von einer den Menschen dominierenden Künstlichen Intelligenz. Das Thema steht derzeit auch bei andern auf der Agenda, in «Maschinen wie ich» bei Ian McEwan etwa. Winterson nimmt sich der ernsten Sache mit viel Witz an, was den Roman zu einem Lesevergnügen macht. Etwa, wenn der Arzt Ry Shelley seinem bewunderten Stein als Liebesbezeugung amputierte Körperteile zu Forschungszwecken aus der Notaufnahme mitbringt: «‹Auch eine Möglichkeit›, sagt Victor, als er Arme und Beine, halbe Beine und halbe Arme aus einer Kühltasche hob.»
Buch
Jeanette Winterson
Frankissstein
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger, Brigitte Walitzek, 295 Seiten
(Kein & Aber 2019)