Als «ein ewiges Zusammenkommen und Auseinandertreiben» ­be­schreibt Olga ihre Liebesgeschichte mit Radu, einem Dokfilmer, den sie in Ecuador kennengelernt hat. Den Unsteten zieht es aus dem Engadiner Bergdorf immer wieder in die Welt hinaus – zu Filmaufnahmen mit seiner Equipe oder zur Tiger-Zählung an den fernen Fluss Amur. Die vielen Abschiede brennen sich Olga ein, und sie weiss: «Es gibt Zeiten, da ist es ratsam, das Herz für eine Weile einzufrieren, damit es keinen Schaden nimmt.» Sie erzählt ihre Geschichte im Rückblick, als alternde Frau, die ihre Erinnerungen an ihre grosse Liebe, aber auch an ihre Kindheit bei den Grosseltern und das Leben im Dorf an sich vorbeiziehen lässt.

Die 77-jährige Autorin hält diese Verbindung in kraftvollen, poetischen Momentaufnahmen fest, die zwischen verschie­denen Zeit- und Ortsebenen wechseln. Es sind an der Lyrik geschulte, auf den Kern reduzierte Bilder. Zur Prosa hat Leta Semadeni nach Gedichtbänden im Idiom Vallader und auf Deutsch erst 2015 mit ihrem zarten Romandebüt «Tamangur» gefunden. «Amur, grosser Fluss», in dem das Dorf aus «Tamangur» anklingt, ist ein stilles, philoso­phisches Buch zum langsamen Genies­sen.

Leta Semadeni 
Amur, grosser Fluss
192 Seiten
(Atlantis 2022)