Die Wilfs, die in einem beschaulichen Vorort von New York leben, waren mal eine bürgerliche Familie, wie sie im Bilderbuch steht: Der Vater ein be- liebter Arzt, die Mutter ebenso geschätzt in der Nachbarschaft, zwei liebe Kinder. Bis zur Schicksalsnacht im Jahr 1985, die zum Bruch führt, wie gleich zu Beginn klar wird: «Änderst du ein Element, ändert sich alles. Eine Erschütterung hier verursacht ein Erdbeben dort. Eine Bruchlinie vertieft sich. Ein Schalter wird umgelegt. Sein Fuss auf dem Gaspedal.»
Dieser Fuss auf dem Gaspe- dal gehört dem 15-jährigen Theo, dem seine zwei Jahre ältere Schwester Sarah den Autoschlüssel überlassen hat. Im Auto sitzt nebst den Geschwistern die gleichaltrige Misty. Sie wird die Nacht nicht überleben, weil Theo angetrunken in die Eiche vor dem Elternhaus kracht. Sarah nimmt die Schuld auf sich. Und der Arzt Ben wird sich ein Leben lang vorwerfen, dass er Misty im Schock nicht richtig behandelt hat.
Dani Shapiro, die mit dem Roman in den USA einen Bestseller landete, fährt von Anfang an volles Geschütz auf. Sie spannt den Erzählbogen von 1970 bis 2020 und erzählt aus diversen Perspektiven, wie das grosse Schweigen nach der Unfallnacht die Familie verändert: Sarah und Theo werden die innere Leere als Erwachsene mit Alkohol beziehungsweise übermässigem Essen füllen. Und auch das Ehepaar Ben und Mimi wird trotz inniger Beziehung nie darüber sprechen – und als Mimi in die Demenz abrutscht, ist es zu spät.
«Stück für Stück aus den Fugen geraten»
Das Schicksal der Wilfs verknüpft Shapiro mit dem der Nachbarsfamilie: dem gegen aussen gefühlskalten Vater Shenkman, der krebskranken Mutter Alice und dem klugen Jungen Waldo, der sich in seiner Andersartigkeit einsam fühlt und in Ben einen Seelenverwandten findet.
Chronologisches Erzählen findet die Schriftstellerin aus Connecticut langweilig, wie sie im Nachwort schreibt. Das Changieren von Zeitebenen und Figurenperspektiven nennt sie einen «Tanz auf dem Drahtseil». Trotz schnellen Wechseln kann man mit den Figuren mitfiebern – den filmreifen Stoff adaptiert Shapiro nun auch fürs Fernsehen.
«Leuchtfeuer» ist nicht ganz frei von Pathos, berührt aber auch in vielen Szenen. Etwa dann, wenn sich herausschält, warum die Familie «Stück für Stück aus den Fugen geraten» ist und sich alle in «ihren einzelnen, kaputten Universen» bewegen, wie es Theo nach 25 Jahren Schweigen über das Familiengeheimnis ausdrückt. Dass die zwischenmenschlichen Verbindungen dennoch nie ganz abgebrochen sind und sich auch nach Jahrzehnten neue Wege auftun können, sorgt für das nötige Quäntchen Trost im Familiendrama.
Dani Shapiro
Leuchtfeuer
Aus dem Engl. von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
288 Seiten
(Hanserblau 2024)