«Bitte der Reihe nach lesen», schreibt der Autor als Tipp zum Einstieg in sein neues Buch mit dem längsten Titel der Saison: «Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne». Was wie ein Erzählband aussieht, entpuppt sich am Schluss als fantasievoller Reigen, in dem die Geschichten, Figuren und Gedankenexperimente alle irgendwie zusammenhängen.
Ein Proberaum fürs Leben
Eine bestechende Idee hat der 16-jährige Fatih gleich in der ersten Geschichte, die 1994 im Neckartal spielt: «Wie super wäre es, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe?», fragt er seine Kumpels. «Du gehst in den rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft? Wie bei ‹Deichmann›, nur nicht mit Schuhen, sondern mit dem Schicksal.» In Fatihs Fantasie kann sich jeder, dem die zehn Minuten Zukunft gefallen, für schlappe 130'000 Mark einloggen und sich auf die Zukunft freuen.
«In Stadtteilen wie dem unseren würde es Ausleihproberäume geben», spinnt er seinen Gedanken weiter. Denn schliesslich soll sich jeder das Glück leisten können – auch Ausländerkinder mit Eltern, die arbeitslos sind oder zwei Jobs gleichzeitig machen müssen, um über die Runden zu kommen. «Für manche ist das Glück bloss umständehalber spärlicher gesät», hängt Fatih noch mit jugendlicher Weisheit an.
Heinrich Heine tummelt sich auf Helgoland
Von den unendlich vielen Möglichkeiten, wie das Leben verlaufen kann, handeln auch die anderen Erzählungen im Buch. Und Sasa Stanisic erzählt diese mit so viel Sprachlust, mit Humor und Menschlichkeit, dass er seine Leserinnen und Leser sofort reinzieht in sein fabelhaftes Universum.
Da tummelt sich Heinrich Heine auf Helgoland genauso wie der Schriftsteller Sasa selbst. Dieser hat sich als Jugendlicher nach Helgoland fantasiert und Jahrzehnte später eine Geschichte darüber geschrieben, wie er eine Geschichte über sich in Helgoland schreibt. Klingt kompliziert, liest sich aber wunderbar leicht und ohne dass sich die Gedanken verknoten.
«Als wäre es einfach, aus einem Leben zu steigen und in ein anderes zu springen!», sagt eine seiner Figuren einmal. Bei Sasa Stanisic eröffnen sich diese Möglichkeiten. Die Fantasie und das Schreiben waren für den 46-Jährigen, der 1992 aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland geflüchtet ist und 2019 den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, schon immer ein Rettungsanker. Das wird auch im neuen Buch deutlich, in dem im Hintergrund Themen wie Migration und Exil mitschwingen.
Wer Kinder, Enkel oder Göttikinder hat, kann diese nun übrigens ebenfalls für Stanisics Fabulierkunst begeistern: Kürzlich ist sein erstes Pixi-Büchlein erschienen: «Ava auf einem Bein» ist eine warmherzige, lustige Freundschaftsgeschichte mit nachdenklichen Untertönen, in der auch eine Drachin nicht fehlen darf.
Sasa Stanisic
Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne
(Luchterhand 2024)
Sasa Stanisic
Ava auf einem Bein
Illustriert von Regina Kehn
(Carlsen 2024)