Der Roman beginnt Ende der 90er in einem Kaff. Nicholas ist schon zu alt dafür, sich noch erfolgreich gegen den von Oma Erika verpassten Spitznamen «Klaus» zu wehren – ausgerechnet Klaus, nicht «Nick Nixon Nicholas». Mit dieser Bürde und letztlich mit sich selbst umzugehen, davon handelt Samuel Schnydrigs Coming-of-Age-Roman. Das Buch besteht aus 17 Kapiteln, von denen jedes eine Episode zwischen 1998 und 2014 beschreibt.
Jede Menge Musik, Käuze und Bräute
Von Anfang an dabei: Basters, der beste Kumpel von Klaus. Er ist sogar ein so guter Kumpel, dass er manchmal schon fast sein Alter Ego sein könnte. Der bevorzugte Treffpunkt der beiden ist ein «Spunten» namens «Rabe». Er gehört dem Exzentriker Marcel, einem Punk gewordenen Hippie (oder war es umgekehrt?) mit ausgeprägter Schwäche fürs Wort «abgejazzt». Ebenfalls an Bord: jede Menge richtig gute Musik, Käuze und Bräute.
Mit einem Auge fürs Kleine wie fürs Grosse zeichnet Autor Schnydrig lustvoll das Leben von Klaus, seinen Freundinnen und Kumpels, Liebschaften und Konzerten, Siegen und Niederlagen. Egal, ob man in den 90ern zur «Generation Super Mario», zu den Goths, Grungern, Red-Hot-Chili-Pepper-Fans oder Rage-Against-the-Machine-Freaks gehörte: Musikalisch kommen hier alle auf ihre Kosten. Das Buch strotzt nur so vor Anspielungen auf Meat Puppets, Pixies, Nick Cave & Co. Es entsteht eine Sammlung lauter gut sortierter Musik, die längst nicht nur auf die 90er beschränkt ist. Beatles, Rolling Stones, Guns ’n’ Roses, Nirvana, Pearl Jam – alles, was Rang und Namen hat, ist da. Aber Obacht. Es sind die 90er, also braucht es neben Trinkfestigkeit und jeder Menge Coolness auch Überlebensinstinkt mit Bon-Jovi-Balladen, wenn es beim Dorffest ans Anbaggern geht.
Jedes Kapitel beginnt mit einer Schwarz-Weiss-Zeichnung der Zürcher Künstlerin Pia Troxler. Sie verbindet Zitate aus dem Text mit surrealen Mühlenrädern, schält Figuren wie einen Apfel mit dem Messer oder lässt Nussschalen auf hoher See verschwinden.
Das waren noch Zeiten!
Das Buch führt zu stark erhöhter Seiten-Blätter-Geschwindigkeit und sogar zu einigen autobiografischen Fragen, etwa anlässlich von Fussballmeisterschaften: «War das nicht der Match, den wir damals zusammen im Public Viewing geschaut haben?» Hui-ui-ui. «Wir.» «Public Viewing.» Das waren noch Zeiten! Diese und mit ihnen das pralle Leben heraufzubeschwören, ist Samuel Schnydrig perfekt gelungen. Kunststück, denn Schnydrig spielt selbst in der Indie-Formation Them Fleurs und der Ein-Mann-Kapelle Suma. Zudem organisiert der Autor und Musiker auch Konzerte und Ausstellungen.
Das Beste an den 320 Seiten ist aber die grossartig-furztrockene Umschreibung der 90er-Musik: «Lieber zwei Wochen Interrail mit Björk als fünf Minuten Techno.» Das sitzt! Am Ende einer fetzigen Lektüre bleibt nur ein Kritikpunkt: Warum gibt es in diesem ganzen musikalischen Kosmos nicht ein einziges Iggy-Pop-Zitat? Doch «Klaus» macht auch sonst dermassen viel «Lust for Life», dass es immer noch locker für die volle Punktzahl reicht.
Samuel Schnydrig
Klaus – Leben vor dem Steinschlag
320 Seiten, mit 17 Abbildungen
(Zytglogge 2021)