«Ich hatte ferne Kontinente bereist, hatte Städte erforscht und Inseln erwandert, aber für das Fremde und Andere in nächster Nähe war ich blind geblieben.» Das schreibt die deutsche Autorin Anne Weber, die seit über 40 Jahren in Paris lebt. Für ihr Buch «Bannmeilen» hat sie nun die fremde Welt erkundet: die Banlieue, die ausserhalb des Périphérique, des Autobahnrings, liegt – auf der anderen Seite der «unsichtbaren Mauern, die den städtischen Raum in ‹drinnen› und ‹draussen› einteilen».
Aus den Medien sind die Vorstädte vor allem durch gewalttätige Aufstände bekannt. Durch die anstehenden Olympischen Spiele in Paris bahnen sich hier nun bauliche Veränderungen an. Mit einem Freund, dem algerisch-französischen Filmemacher und Banlieue-Bewohner Thierry, unternimmt sie Streifzüge in die Vorstädte des Départements Seine-Saint-Denis. Und mitten in der Tristesse taucht eine heimelige Kaffeebar auf, die sie immer wieder besuchen und wo sie mit den Bewohnern ins Gespräch kommen.
An den Strassenecken stehen aber auch die «chauffeurs», die Späher der Drogendealer, die Alarm schlagen, sobald die Polizei auftaucht. Der Ich-Erzählerin erscheinen sie wie ein Chor, ein Echoraum von Alphörnern, «die einander über ein Tal hinweg antworten». Und gleichzeitig fragt sie sich, ob es nicht schockierend ist, in etwas Schönheit zu sehen, was für die Bewohner der Siedlung eine tägliche Bedrohung darstellt.
Solchen Diskrepanzen geht die Trägerin des Deutschen Buchpreises 2020, die nun an den Literaturtagen mit dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet wird, in detailreichen Szenen, mit Hintergrundwissen und empathischem Blick auf den Grund.
Wenn man die Ich-Erzählerin im Roman mit Ihnen gleichsetzt: Warum haben Sie entschieden, dorthin zu gehen, wohin niemand geht?
Anne Weber: Über die Banlieue gibt es viele Reportagen, in denen oft über abgewrackte Wohnsiedlungen und Drogen-Spots berichtet wird, von denen regelmässig Unruhen ausgehen. Wer wie ich kreuz und quer durch die Vorstädte wandert, trifft aber auf sehr viel anderes. Auch auf Orte und Menschen, die den Klischeevorstellungen ganz und gar nicht entsprechen. Wichtig war tatsächlich auch das: Gehen, wo niemand geht.
Und zu merken, dass man überall, auch an den unwirtlichsten Orten, auf Menschen trifft, meistens auf Migranten, die sich irgendwo eine Unterkunft gebaut haben. Einer der Schlüsselsätze des Buches ist: «Die abgelegenen, vergessenen Ecken sind nur von uns vergessen, von anderen werden sie bewohnt.»
Wie viele Kilometer sind Sie abgelaufen, und was war Ihre eindrücklichste Begegnung?
Als ich mit dem Schreiben begann, war ich ungefähr 600 Kilometer gegangen. Mittlerweile bin ich bei über 1000, denn ich bin noch weiter dort unterwegs. Die beiden Hauptfiguren des Buchs kehren immer wieder zu einem Café zurück, mit dessen Stammkunden sie allmählich vertraut werden. Das eindrücklichste Erlebnis hatte ich wohl dort, als ein Mann sich an der Theke ein Glas Wein über eine Magensonde direkt in den Bauch spritzte und keinem der Anwesenden etwas dazu einfiel.
Da habe ich gedacht: Hier bin ich wirklich in einer fremden Welt gelandet. Es war erschreckend, aber auch schön, zu sehen, wie selbstverständlich und tolerant die Menschen die Seltsamkeiten oder Leiden der anderen hinnehmen.
Sie blicken mit einem ungewohnten Blick auf die Banlieue. Was macht den Zauber von lärmigen Schnellstrassen, Müllkippen und Hochhäusern aus? Und wie vermeiden Sie es, das Elend zu «romantisieren»?
Das Anziehende liegt natürlich woanders als bei einem Rundgang durch die Innenstadt von Paris oder Venedig. Es besteht etwa darin, dass es so viele Überraschungen und Kontraste gibt. Man kommt an trostlosen Betonwohntürmen vorbei, danach biegt man ab und steht plötzlich vor einem Hindu-Tempel, worauf eine Autobahnbrücke folgt, hinter der die Banque de France ihren Sitz hat, wo die grössten Geldreserven Europas lagern. Es gibt nicht nur Elend – aber natürlich auch. Ich habe mich oft gefragt: Was mache ich eigentlich hier?
Ist das Voyeurismus? Letztlich kommt es aber darauf an, welchen Blick man auf Orte und Menschen wirft. Ob es ein menschenfreundlicher, offener Blick ist oder ein ausstellender, beurteilender. Kurz, es kommt darauf an, ob man sich für was Besseres hält. Ich hoffe, Letzteres habe ich vermeiden können.
Wie haben Sie Ihre Rolle zwischen Ihrer komfortablen Wohnsituation in Paris und den Vororten, die Sie stets wieder verlassen konnten, empfunden?
Ich lebe am Rand der Stadt, aber eben innerhalb der Stadt und nicht in der Banlieue. Die Wohnungen sind in Paris so teuer, dass ich bis zu meinem 45. Lebensjahr in höchstens 35 Quadratmetern gelebt habe. Aber natürlich habe ich mich auf diesen Streifzügen immer wieder sehr privilegiert gefühlt. Und nicht selten auch unwohl. Aber was könnte die Alternative sein? Dass jeder in seiner Welt bleibt und sich nicht drum schert, wie andere leben? Das kann es ja auch nicht sein.
Fungiert auch Ihr Begleiter Thierry als Gradmesser? Mit ihm sind die Gespräche bisweilen sarkastisch, wenn er die Rolle des traditionellen Algeriers und Sie die Rolle der europäischen privilegierten Frau einnehmen. Sie beschreiben die Ironie im Buch als eine Möglichkeit, mit diesem Gegensatz umzugehen.
Die Gespräche zwischen den beiden Hauptfiguren bilden das Rückgrat des Buches. Die beiden geraten von Anfang an in diese verschiedenen Rollen hinein, weil man, je nachdem, wen man zum Gegenüber hat, ein anderer Mensch wird. Diese verschiedenen Blickwinkel auf das Erlebte sind es, welche die ganze Erkundungsreise erst interessant machen. Der Erzählerin gehen dabei oft die Augen auf. Gleichzeitig machen die beiden sich über dieses Rollenspiel lustig und brechen damit die Rollen wieder auf. Gott sei Dank, denn anders würden diese zum Gefängnis.
Sie schreiben Ihre Bücher jeweils auf Deutsch und Französisch. Wo liegen bei «Bannmeilen», in dem es ja auch um sprachliche Eigenarten und die Herkunft geht, die sprachlichen Herausforderungen?
Die französische Fassung habe ich vor Kurzem fertiggestellt, sie erscheint Anfang nächsten Jahres. Ich fand es hilfreich, diese Geschichte zunächst nicht in der Sprache zu schreiben, in der ich sie erlebt habe. Diese Distanz drückt sich schon im Titel aus: «Bannmeilen» ist zwar ursprünglich die genaue Entsprechung des französischen Wortes «banlieue», hat sich im Deutschen aber anders entwickelt. Im Titel steckt eine Fremdheit, die auch im Roman zu spüren ist.
Die sprachlichen Herausforderungen waren weniger gross bei diesem Buch als die Gewissensfrage: Wie werde ich den Menschen, denen ich begegnet bin, gerecht?
Lesungen
Anne Weber ist an den Solothurner Literaturtagen in Lesungen, Gesprächen und zur Verleihung des Solothurner Literaturpreises zu Gast.
Fr, 10.5.–So, 12.5. www.literatur.ch
Radio
Live-«Kultur-Talk» mit Anne Weber
Fr, 10.5., 09.00 SRF 2 Kultur
Buch
Anne Weber
Bannmeilen
301 Seiten
(Matthes & Seitz 2024)