Jamie kennt seine Mutter Noelle nur von einem Video, das zwei Minuten und acht Sekunden lang ist. Der 13-Jährige sieht sich den alten Clip jeden Tag an, besonders jene Szene, in der sie kurz in die Kamera lächelt: Noelle im roten Badekleid, die beste Schwimmerin ihres Schuljahrgangs. Noelle, die bei seiner Geburt starb.
Perspektive wechselt von Lehrerin zu Schüler
Der Protagonist von Elaine Feeneys zweitem Roman «Die seltsamste aller Zahlen» ist kein gewöhnliches Kind. Der neurodiverse Bub weiss genau, wie viele Schritte ihn zu seiner Schule im fiktiven westirischen Städtchen Emory führen (2816).
Und er verbringt seine Zeit gerne an der Wandtafel in seinem Zimmer. Dort notiert er sich Fakten und Theorien zur Welt und sein grosses Projekt: ein Perpetuum mobile, das ihn mit seiner verstorbenen Mutter vereint. Wie das funktionieren soll, versteht freilich nur er.
Womit Jamie jedoch nicht klarkommt, ist der Alltag an seiner Sekundarschule. Und so nimmt sich die Englischlehrerin Tess Mahon des Teenagers an. Tess, deren eigenes Leben chaotisch genug ist, schleppt ihn bald zum neuen Werklehrer Tadhg Foley.
Der gemeinschaftliche Bau eines Currachs – ein traditionelles Fellboot – soll Jamies Sozialkompetenz fördern und ihm zeigen, dass nicht alles im Leben minutiös geplant werden muss.
«Die seltsamste aller Zahlen» bezieht seine Kraft aus dem Einblick in die Innenleben von Jamie und Tess, zwischen denen die Erzählung hinund herspringt. Hier die Lehrerin, die mit ihrer Familiengeschichte, künstlicher Befruchtung und ihrem gefühlskalten Ehemann hadert. Dort Jamie, dem die Pubertät und seine abwesende Mutter zu schaffen machen.
Bisweilen traut die Autorin den Lesern wenig zu
Die Gedanken des Teenagers sprudeln unaufhörlich und entlarven dabei immer wieder auf amüsante Art das fragwürdige Tun der Erwachsenen. So lässt sich Jamie zum Glück nie ganz vom sentimentalen Tadhg Foley einlullen, der ihm das Bootprojekt als sein Perpetuum mobile schmackhaft machen will.
In Jamies Gedankenfluten finden sich aber auch die berührenden Momente dieses Romans: Hinter diesem vermeintlich abgeklärten 13-Jährigen, der Fakten, Regeln und Hypothesen sammelt, verbirgt sich ein ganz normaler, unsicherer Teenager.
Doch so wie Jamies abstruse Theorien ist auch Elaine Feeneys Roman nicht makellos. Bisweilen traut die Autorin ihren Lesern gar wenig zu. Mehrmals formuliert sie Spannungen zwischen Figuren und Konflikte in der ländlich-irischen Gesellschaft aus, die in den Handlungen und den Aussagen ihrer Protagonisten mehr als deutlich lesbar sind.
Nichtsdestotrotz ist «Die seltsamste aller Zahlen» eine berührende Geschichte übers Erwachsenwerden, über Verluste und Zeiten des Haderns. Feeneys expressive Sprache zieht einen durch die Erzählung wie der Fluss Brú, diese stets präsente, stille Kraft im Roman.
Beständig wie das Leben fliesst dieser durch Emory und in die Weite. Was einen dort draussen erwartet, findet nur heraus, wer sich treiben lässt.
Elaine Feeney
Die seltsamste aller Zahlen
Aus dem Englischen von Ulrike Brauns
320 Seiten
(Harper Collins 2024)