Der Verbrecher Arthur Orton wird festgesetzt und für 14 Jahre ins Londoner Gefängnis Newgate verfrachtet. Dies verfügt ein Geschworenengericht Ihrer Majestät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Denn Orton behauptet, ein anderer zu sein, als er tatsächlich ist, um als Erbe einer reichen Familie ein besseres Leben führen zu können.
Sittenbild aus Sicht der Haushälterin
Er hat die Identität des Erben Sir Roger Tichborne angenommen, der vor Jahren auf See verunglückt ist – zum Entsetzen der Tichbornes, die Orton verklagen. Allerdings, und das machte den Fall so spannend, behauptete die reiche Lady Tichborne, Orton sei tatsächlich ihr verlorener Sohn. Sie wollte ein verlorenes Kind zurück, ganz gleich welches.
Die britische Schriftstellerin Zadie Smith hat diesen berühmten Rechtsstreit in ihrem neuen Roman «Betrug» aufgegriffen und zeichnet ein umfangreiches Sittenbild der viktorianischen Gesellschaft aus der Sicht der Haushälterin Eliza Touchet. Die lebenserfahrene Gouvernante lebt mit Cousin William Ainsworth zusammen, einem damals bekannten Schriftsteller, der heute vergessen ist. Smith wagt sich mit dieser geschichtlichen Perspektive auf neues Terrain.
Bisher trat sie mit feinfühligen Beziehungsgeschichten in der Gegenwart hervor. Ortons Hauptzeuge ist der aus Jamaika stammende Andrew Bogle, den die Gerichtsbarkeit wegen seiner Hautfarbe nicht ernst nimmt. Touchet sieht die rassistischen Vorurteile der Zeit bestätigt, dass einem Schwarzen nicht zu trauen sei, zumal sich Orton und Bogle in hanebüchene Widersprüche verstricken.
Die Charaktere sind Smith ans Herz gewachsen
grosser Teil der Bevölkerung lässt sich nicht irritieren. Eine aktive, kleinbürgerliche Bewegung stellt sich hinter Orton und dessen Ansprüche «gegenüber denen von oben» – eine klassisch sozial-populistische Haltung, legitimiert durch den Schwarzen Bogle. Haushälterin Touchet durchschaut das Spiel: «Sie würde stets im Gedächtnis behalten, dass es just die irrigen Überzeugungen sind, denen wir besonders anhängen.»
Zadie Smith liebt ihre Charaktere, selbst wenn sie ins Karikaturistische kippen. So ist der Betrüger Orton einer zum Gernhaben. Intellektuell etwas zurückgeblieben, wittert er seine Aufstiegschance und weiss in der Folge nicht mehr, wie ihm geschieht, bis er im Gefängnis landet. Auch der dusselige Schriftsteller Ainsworth wächst einem ans Herz, obwohl Eliza Touchet längst erkennt, dass sich seine Romane vor allem durch Langeweile auszeichnen. Sie liest nach den ersten Kapiteln meist gleich das letzte.
Buch
Zadie Smith
Betrug Aus dem Englischen von Tanja Handels
528 Seiten
(Kiepenheuer & Witsch 2023)