Die Engländerin Mary Shelley erwacht in einer Villa am Genfersee aus «zittrigem Schlaf»: «Da stand eine Kreatur an ihrem Bett, zusammengeflickt aus Menschenteilen, aus Knochen und Fleisch, die Augen wässrig gelb …» Frankensteins Monster war geboren. Es sollte Literaturgeschichte schreiben. Der Bericht von der Entstehung des Romans «Frankenstein oder der moderne Prometheus» im frühen 19. Jahrhundert wurde in etlichen Varianten erzählt und verfilmt.
Der deutsche Schriftsteller Markus Orths fügt mit seinem Buch «Mary & Claire» nun eine weitere Version hinzu. Aber das Monster taucht hier erst am Schluss der Geschichte auf. Im Mittelpunkt des Romans steht vielmehr das Vierecksverhältnis der Schriftstellerinnen Mary Shelley und Claire Clairmont mit den Dichtern Percy Bysshe Shelley und Lord Byron.
Die Frauen waren Halbschwestern, Töchter eines verarmten Gelehrten: Sie suchten Zeit ihres Lebens den Ausbruch aus den beengenden Gesellschaftsnormen. Autor Markus Orths ist vor ein paar Jahren mit dem Roman «Das Zimmermädchen» aufgefallen. Darin erzählte er von einer Hotelangestellten, die unter den Betten der Gäste zu nächtigen pflegte. Mit «Mary & Claire» verwandelt er nun einen Moment der Literaturgeschichte in ein wunderbares Liebesdrama.
Soziale Ächtung und neue Bekanntschaft
Orths Roman beginnt mit der Kindheit und Jugend der Mädchen. Sie verliebten sich in den Romantiker Percy Bysshe Shelley, der einmal ein Riesenvermögen erben sollte, aber stets klamm war – «Freigeist, radikaler Kämpfer, hellsichtiger Poet». Er war verheiratet, was ihn nicht daran hinderte, seine schwangere Frau zu verlassen und mit den Halbschwestern – beide seine Geliebten – auf den Kontinent durchzubrennen.
Die Reise wurde ein Desaster: «Sie mussten ihre löchrigen Laken über das stinkende Stroh in Heuböden aufschlagen.» Es blieb nur die Rückkehr nach England, wo das Trio nichts als soziale Ächtung fand. Orths scheut die schwärmerische Sprache nicht, wenn er die Eigenschaften der beiden Frauen aus Sicht des Liebhabers beschreibt.
Das Dreiecksverhältnis hatte Bestand, bis sich Claire dem bisexuellen Lord Byron aufdrängte. Dieser verweigerte sich ihr zwar emotional. Aber er lud das Trio in seine gemietete Villa am Genfersee, wo Mary Shelley die Inspiration für ihren bahnbrechenden Roman vom künstlichen Menschen fand.
Markus Orths - Mary & Claire
297 Seiten (Hanser 2023)