Jedes Wort kann zur Gefahr werden. Regimekritik wird im Irak mit Gefängnis oder Tod bestraft. «Was sollen wir tun, wenn die Sprache ein Loch zwischen uns Iraker bohrt? Schweigen ist bei uns ein Zustand geworden, dem wir mehr Vertrauen schenken als dem Sprechen.» Das hört Dafer, Protagonist in Usama Al Shahmanis neuem Roman, von einer Freundin, als er seine Familie im Irak besucht. Dafer lebt schon eine Weile im Exil in der Schweiz. Das Schweigen seiner Eltern über das Verschwinden seines Bruders ist ihm fremd geworden, und er denkt an das arabische Wort «Mahdura»: «Es bezeichnet die Stille, die zwischen Menschen herrscht, die sich eigentlich viel zu sagen hätten.»
Erinnerung an Diktatur, Krieg und Flucht
In seinem dritten Roman «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt» erzählt Usama Al Shahmani vom politischen Flüchtling Dafer, der hin- und hergerissen ist zwischen dem neuen Leben in der Schweiz und seinen Erinnerungen an eine Kindheit und Studentenzeit im Irak. Die Erfahrungen in der Diktatur, im Krieg und auf der Flucht quälen ihn, angekommen ist er aber auch noch nicht im neuen Land, das ihm einen ungastlichen Empfang bereitet hat. Er wird von Asylunterkunft zu Asylbunker geschoben, bis er schliesslich eine Aufenthaltsbewilligung erhält und – als Akademiker – eine Arbeit als Tellerwäscher findet. Zu Stützen in der Fremde werden für ihn das Wandern durch den Wald und der Aare entlang. Zudem stürzt er sich mit Haut und Haar in die neue Sprache, liest und lernt Deutsch – und kommt so dem Exil und sich selbst näher: «Die fremde Sprache half ihm, Wörter aus der Tiefe des Schweigens zu bergen, zum Sprechen zu bringen, wie ein Baum, der nach der Stille des Winters neue Blätter hervorbringt.» Usama Al Shahmani, der wie sein Protagonist wegen eines regimekritischen Theaterstücks 2002 aus dem Irak in die Schweiz geflohen ist, erzählt in bildhafter, poetischer Sprache und im Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit vom Leben in der Fremde und von den Traumata eines Kriegsversehrten. Während Dafer noch auf der Suche ist, ist der in Frauenfeld lebende Schriftsteller Al Shahmani längst angekommen: Das neue Werk ist sein dritter erfolgreicher Roman auf Deutsch, und seit 2021 bereichert er als Kritiker den SRF-«Literaturclub».
Lesungen
Mi, 21.9., 19.30 Buchhandlung Bodan Kreuzlingen TG
Fr, 23.9., 19.00 Sentitreff Luzern Mi, 28.9., 19.00 Literaturhaus Basel
Do, 29.9., 19.30 Literaturhaus Zürich
Schreibwerkstatt für Migrantinnen und Migranten mit Usama Al Shahmani
Do, 22.9., 10.30 Zentrum 5 Bern
Teilnahme kostenlos, Anmeldung: info@zentrum5.ch
Buch
Usama Al Shahmani
Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt
176 Seiten (Limmat 2022)
6 Fragen an den Schriftsteller Usama Al Shahmani
kulturtipp: Literatur, Sprache und Natur sind Ihrem Protagonisten Dafer ein Trost in der Fremde. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht, als Sie 2002 in der Fremde angekommen sind, fanden Sie darin ebenfalls Unterstützung?
Usama Al Shahmani: Ja, die Natur konnte die Sehnsucht nach der Herkunft, nach Freunden und der vertrauten Umgebung etwas ersetzen. Und die Sprache, in der man sich frei bewegen darf, war für mich der Zugang, um mich wohlzufühlen im Exil und die Freiheit immer wieder neu zu entdecken. Sprache heisst mehr als nur Wörter und Kommunikation. Sie bedeutet eine neue Welt, eine neue Kultur, eine neue Existenz. Sprache und Natur bilden auch in meinen beiden anderen Romanen die Meilensteine.
kulturtipp: Sie schreiben in poetischer Sprache auf Deutsch. Wie unterscheidet es sich vom Schreiben in Ihrer Muttersprache Arabisch?
Usama Al Shahmani: Es gibt viele Unterschiede zwischen Arabisch und Deutsch, die mit der Satzstruktur und der Funktion der Sprache zu tun haben. Die arabische Sprache vermittelt die Literatur durch Metaphern, Bildersprache, Gefühle, den Klang des Wortes. Das gibt es zwar auch im Deutschen, aber da ist es präziser, und die Sätze sind strukturierter. Dafür kann man mit Nebensätzen den Satz ausdehnen. Ich geniesse es, zwischen und in zwei Sprachen zu schreiben und zu denken und darin meine eigene Sprache zu finden. Ich bin immer auf der Suche nach meinen eigenen Worten und der eigenen Wahrnehmung der Welt. Seit über zwei Jahren schreibe ich einen Lyrikband auf Arabisch, einige Gedichte davon habe ich bereits ins Deutsche übertragen. Prosa hingegen schreibe ich immer auf Deutsch.
kulturtipp: Wie nahe ist Ihnen Ihre Figur Dafer, der wie Sie wegen eines Theaterstücks aus dem Irak flüchten musste?
Usama Al Shahmani: Dafer vertritt eine andere Perspektive als ich. Im Roman erlebt er die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart und versucht, diesen Kreis zu vervollständigen. Er sucht nach seiner Identität. Wald, Wasser und Fluss sind in diesem Roman sehr präsent. Fluss heisst auch Bewegung, Veränderung.
kulturtipp: «Ist Heimat nur eine grosse Lüge, die wir gerne glauben?», fragt sich Dafer im Buch. Was verbinden Sie mit Heimat?
Usama Al Shahmani: Ich definiere die Sprache als meine einzige Heimat. Für mich ist der Begriff poetisch. Ich verbinde Heimat nicht mit einem Ort, sondern eher mit Kindheit, Jugend und Erinnerungen. Heimat ist ein Korb voller Gefühle.
kulturtipp: Sie beschreiben im Roman, wie Menschen unter ständiger Angst in der Diktatur im Irak leben. Wie ist die Lage jetzt, waren Sie nochmals im Irak?
Usama AL Shahmani: Ich war vor vielen Jahren das letzte Mal im Irak. Die jetzige Lage ist noch schlimmer. Die islamischen Parteien haben sich etabliert, und der Radikalismus hat sich nach Saddam Husseins Sturz vor bald 20 Jahren nochmals verstärkt. Es ist die gleiche Diktatur wie damals, nur die Form hat sich geändert. Es gibt keinen Staat im Sinne von Gericht, Gesetz, Freiheit, Bildung oder Medien. Liberales Denken ist nicht möglich, die bewaffneten Milizen haben das Wort. Die Jungen protestieren seit Jahren auf den Strassen, aber sie werden ins Gefängnis gesteckt, gefoltert, verschleppt oder getötet. Auch die Kunstschaffenden sind in Gefahr, wenn sie sich offen äussern und Freiheit fordern. All das gleicht der Situation von Saddams Diktatur, vor der ich damals geflüchtet bin. Die Angst ist immer noch eine ständige Begleiterin der Menschen.
kulturtipp: Auch in Europa herrscht wieder Krieg. «Wo nur entspringt die Macht des Hasses oder die Neigung zur Zerstörung, wo liegt die Quelle?», fragt Dafer. Haben Sie eine Antwort darauf?
Usama Al Shahmani: Wo liegt die Quelle des Kriegs? Das ist die grosse Frage der Geschichte und der Gegenwart. Es geht um die Gier nach Macht und danach, Menschen zu unterdrücken, wie es jetzt wieder in diesem wahnsinnigen Krieg durch Putin geschieht. In Europa hatte man gedacht, dass der Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg eine harte Lektion gelernt hat. Und nun kommt wieder eine ähnliche Geschichte von grausamer Diktatur: Die Flucht von vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern, die Verschleppung von Minderjährigen. Die Demokratie, an die wir geglaubt haben, ist nur aus Glas und so zerbrechlich, dass Freiheit, Stabilität und Sicherheit schnell kippen können.