Roman: Aus dem Takt
US-Pulitzer-Preisträgerin Anne Tyler zeichnet in ihrem neuen Roman «Der Sinn des Ganzen» ein liebevolles Porträt eines verschrobenen Einzelgängers.
Inhalt
Kulturtipp 21/2020
Babina Cathomen
Anne Tyler gelingt in ihrem neuen Roman ein kleines Kunststück: Ihr Protagonist ist zwar ein Gewohnheitstier, um nicht zu sagen, ein Langweiler – gefangen in einer Endlosschleife des Immergleichen. Überraschungen sind ihm ein Graus, am liebsten lebt er im seichten Fahrtwasser vor sich hin. Doch die US-Autorin vermag ebendiesen grauen Durchschnittsmenschen so zu zeichnen, dass die Leserin sich für ihn interessiert. Das hängt mit Tylers Witz zusammen, den sie zwischen ...
Anne Tyler gelingt in ihrem neuen Roman ein kleines Kunststück: Ihr Protagonist ist zwar ein Gewohnheitstier, um nicht zu sagen, ein Langweiler – gefangen in einer Endlosschleife des Immergleichen. Überraschungen sind ihm ein Graus, am liebsten lebt er im seichten Fahrtwasser vor sich hin. Doch die US-Autorin vermag ebendiesen grauen Durchschnittsmenschen so zu zeichnen, dass die Leserin sich für ihn interessiert. Das hängt mit Tylers Witz zusammen, den sie zwischen den Zeilen versprüht, ohne ihren eigenbrötlerischen Protagonisten blosszustellen. Und damit, dass sie frischen Wind ins Leben ihres Antihelden bringt, indem sie ihn mit unvorhergesehenen Ereignissen aus der gewohnten Bahn wirft.
Der vermeintliche Sohn steht vor der Türe
Der «Einzelgänger mit unumstösslichen Gewohnheiten» heisst Micah Mortimer, ist Mitte 40, lebt in einem unscheinbaren Mietshaus, geht gewissenhaft seiner Arbeit als Computerspezialist und Hausmeister nach und hält sich penibel an seine selbst auferlegten Putz- und Joggingpläne. Zuweilen trifft er sich mit seiner Freundin Cass, zu der er eine unaufgeregte, leicht distanzierte Beziehung pflegt. «Die nötigen Kompromisse waren geschlossen, an die Unvereinbarkeiten hatte man sich angepasst, kleinere Macken wurden geflissentlich übersehen», heisst es lakonisch. Doch dann erfährt Cass, dass sie möglicherweise ihre Wohnung verlieren wird. Auf diese Ankündigung hin schweigt Micah, bietet seiner Freundin nicht an, bei ihm wohnen zu können. Zu spät bemerkt er, dass er mit dieser Gleichgültigkeit seine Beziehung gefährdet. Und dann steht plötzlich auch noch ein junger Mann vor der Türe, der behauptet, Micahs Sohn zu sein. Das ist zwar unmöglich, zumal Micah mit seiner damaligen religiös veranlagten Jugendliebe eine durchwegs keusche Beziehung geführt hat, dennoch fühlt er sich irgendwie verantwortlich.
Und so gerät Micahs überschaubare Welt plötzlich aus dem Takt. Subtil zeigt die 79-jährige Autorin, wie sich durch das Unvorhergesehene plötzlich etwas verschiebt ihn Micahs Leben, wie er merkt, dass ihm doch etwas fehlt. Anne Tyler, die meisterhafte Erzählerin des ganz Gewöhnlichen, lässt in ihrem 23. Roman ein kleines Fenster offen für ihren Antihelden. Und zeigt: Für Veränderungen ist es nie zu spät.
Buch
Anne Tyler
Der Sinn des Ganzen
224 Seiten
(Kein & Aber 2020)