Wie weiterleben, wenn die einzige Tochter, 17 Jahre jung, bei einem Velounfall ums Leben kommt? Mit dieser Frage wacht die Ich-Erzählerin Linda in Daniela Kriens neuem Roman «Mein drittes Leben» jeden Morgen von neuem auf. Jahrelang. In ihr ist nur noch ein «kleines, unscheinbares und doch lebenserhaltendes Glimmen».
Fast alle Personen, die ihr nahestehen, hat sie aus ihrem Leben vertrieben. Sie erträgt nur noch die Einsamkeit, hat sich in ein unscheinbares Haus in einem reizlosen Strassendorf zurückgezogen, wo nichts auf ihre Tochter Sonja hinweist.
«Die Schönheit hat hier kein Recht», stellt die frühere Kuratorin, die stets Wert aufs Äussere legte, fest. In eindringlichen Bildern schildert Daniela Krien diesen Rückzug ins «Niemandsland zwischen Leben und Tod», wo Linda zu Beginn in ihrem Schmerz verharrt.
Einfache Hausund Gartenarbeiten, Rituale, wie der Spaziergang mit Hündin Kaja, retten sie über die endlosen Tage. Wie ein Buch über bodenlose Trauer auch ein Buch der Hoffnung sein kann, zeigt die deutsche Autorin mit psychologischem Feingefühl. Lindas Rückkehr in das titelgebende «dritte Leben» vollzieht sich in vorerst kaum spürbaren, winzigen Schritten. Drei vor, einer zurück – bis zum Moment, wo sie wieder Empathie empfinden, Nähe zu anderen Menschen leichter zulassen kann.
Den Lebensmut nicht verlieren
Krien arbeitet ihre Charaktere bis in die Nebenfiguren fein aus: etwa Lindas Mann Richard, der für Linda da ist, aber mit der Trauer um seine Tochter ganz anders umgeht als seine Frau. Oder die Nachbarin Natascha, die ihr Leben auf ihre behinderte Tochter Nine ausgerichtet hat, aber den Lebensmut nicht verliert. Sie ist eine der wenigen, die mit Lindas Trauer natürlich umgehen kann und ihr nicht aus dem Weg geht wie viele andere.
Daniela Krien, selbst Mutter einer schwerbehinderten Tochter, schildert im Roman auch Nataschas Kraftakt bei der Pflege ihrer Tochter. Und sie zeigt am Beispiel von Linda, wie der Einsatz für andere – nebst der Selbstfürsorge – die inneren Kräfte aktivieren kann. So findet Linda zu einer «anderen Art von Glück», wie ihr einmal eine alte Nachbarin, die vor Jahrzehnten ebenfalls ihr Kind verloren hat, sagt: «Es hat Tiefe, aber keine Leichtigkeit.»
Daniela Krien
Mein drittes Leben 304 Seiten
(Diogenes 2024)
Erscheint am Sa, 21.8.