Ganz behutsam nähern sich die drei Figuren einander an. Die Journalistin Vera, die in der Ruhe eines Engadiner Dorfs über rätoromanische Literatur schreibt. Der kriegstraumatisierte Kálmán, der im Dorf versucht, seine Erinnerungen, die in Bruchstücken in ihm hochsteigen, einzudämmen. Und Veras Schwester Sophia, die hinter verborgenen Türen Unbekanntes sucht und im Unterland in der Psychiatrie ist.

Vera und Kálmán begegnen sich erstmals im Zug, und als sie sich später im Dorf über den Weg laufen, gehen sie stillschweigend zusammen in die Beiz, knüpfen erste feine Gesprächsbande. Tastend nähert sich Vera Kálmáns Innenwelt an, gibt ihm Halt. Sophia stösst erst später dazu – sie kann Kálmáns Geister der Vergangenheit noch auf einer anderen Ebene als Vera verstehen, denn sie selbst rutscht zuweilen «unter die Oberfläche der Wirklichkeit», wie es heisst.

Gianna Olinda Cadonau, die in Indien geboren und im Engadin aufgewachsen ist, beschreibt die Innenwelten ihrer Figuren in bildhaften Szenen und lässt sie aus wechselnden Perspektiven erzählen. Die Autorin hat sich in ihrem Studium der Internationalen Beziehungen mit Kriegsverbrechen und Kindersoldaten beschäftigt. In einem Interview mit der «Engadiner Post» sagte sie, dass sie im Roman habe erforschen wollen, wie man über Gewalt und Traumata schreiben kann, ohne effekthascherisch die rohe Gewalt zu zelebrieren.

Das gelingt ihr auf zarte, schwebende Weise. Aus Erinnerungs-Bruchstücken und wiederkehrenden Motiven von Zimmern und Türen, die sich gegen Ende des Romans öffnen, setzt sich ein fragmentarisches Bild zusammen. Aber vieles bleibt beim Lesen in Leerstellen verhaftet – auf unsicherem Grund, auf dem sich auch die Figuren bewegen. Und mittendrin die titelgebende «Feuerlilie», ein Hoffnungsschimmer.

Buch
Gianna Olinda Cadonau
Feuerlilie
171 Seiten
(Lenos 2023)