Mit der «Beerdigung eines Phantoms» beginnt die Geschichte. Die junge und erfolgreiche Wissenschafterin Meret Benedikt ist ins Bündner Bergdorf Dadens zurückgekehrt, um den ihr unbekannten Vater Vinzenz Benedikt zu beerdigen. Vor 36 Jahren ist er in den Bergen verschwunden, nun hat ihn der schmelzende Gletscher freigegeben. Gefunden hat ihn der junge Web- und Skidesigner Niculan Cavegn auf einer seiner Bergtouren.
Freundschaften und Unstimmigkeiten
Für Meret und Niculan beginnt gleichermassen eine Suche in der Vergangenheit – die Suche nach der Wahrheit. Denn Niculans Vater war damals der Letzte, der Vinzenz noch lebend in den Bergen gesehen hatte. Stutzig macht Niculan, dass das Sicherungsseil, das er beim Toten gefunden hat, so aussieht, als ob es durchschnitten worden wäre. Meret wiederum weiss von all dem vorerst nichts: Ihren Vater hat sie nie gekannt, und sie versucht sich nun aus den Geschichten der Dorfbewohner ein Bild zusammenzusetzen. Ihre Recherche führt sie auch auf die Spur ihres Grossvaters, der jeweils mit Niculans Grossvater in den Bergen nach Kristallen gesucht hat – bis es zu einem Zerwürfnis kam.
Urs Augstburger verknüpft im neuen Roman geschickt die Geschichte zweier Familien aus drei Generationen: Die Bündner Bergbauernfamilie Cavegn und die Unternehmerfamilie Benedikt aus dem Unterland. Merets Grossvater und Vater waren beide Internatsschüler im Kloster Dadens und eng mit den Cavegns befreundet. Allerdings waren die Freundschaften auch von Unstimmigkeiten geprägt. Was genau vorgefallen ist, versuchen Meret und Niculan nun herauszufinden – und kommen sich dabei näher.
Der Schriftsteller teilt seinen Roman in drei Teile: «Das Buch der Tochter, 2020», «Das Buch der Grossväter, 1936/1947» und «Das Buch der Väter, 1967/1984». Im Fokus bleiben aber Meret und Niculan in der Gegenwart: Der Februar 2020 wird bereits von den Anfängen der Corona-Pandemie überschattet.
Beim Bündner Ort Dadens (rätoromanisch: innen) handelt es sich um das Klosterdorf Disentis in der Surselva. Der Aargauer Urs Augstburger, der selbst zeitweise in Disentis lebte, reichert seinen Roman mit rätoromanischen Einsprengseln und wahren Dorfanekdoten an – der Gleitschirm fliegende Pater etwa beruht auf wahren Tatsachen. Auch seine Recherche zum Handwerk der Strahler, der Kristallsucher in der Surselva, fliesst ein.
Mit Bergmythen hat sich Urs Augstburger, der bei SRF im Dokfilm-Bereich arbeitet, bereits in seiner Bergtrilogie von 2001 bis 2009 befasst. Mit seinem zehnten Roman legt er nun eine packende Familiensaga mit Krimi-Elementen vor. Auch die voraussehbare Liebesgeschichte zwischen Meret und Niculan und der etwas gar dick aufgetragene Schluss schmälern das Lesevergnügen nicht.
Sein neues Werk hat der Autor im November in multimedialen Live-Shows mit Monika Schärer und anderen vorgestellt. Im Frühling ist eine weitere Lesetour mit Film, Klang, Polaroids und Textauszügen geplant.
Buch
Urs Augstburger
Das Dorf der Nichtschwimmer
389 Seiten
(Bilger 2020)