Ungestüm, hitzig, rau. In seinem Bild «The Cock (Kiss)» (2002) hielt der deutsche Fotograf Wolfgang Tillmans einen innigen Kuss zwischen zwei jungen Männern fest. Wie das berühmte Umschlagmotiv ist auch «Young Mungo», der zweite Roman des schottischen Autors Douglas Stuart, ein starkes Manifest gegen Homophobie, das gleichzeitig stereotype Vorstellungen von Männlichkeit hinterfragt. In der düsteren Erzählung findet Mungo Hamilton mitten in einem zerrütteten Umfeld seine erste Liebe.
Der 15-Jährige, benannt nach Glasgows Schutzpatron, wächst in einer trostlosen Welt auf. «Gewalt ging der Zärtlichkeit immer voraus», schreibt Stuart, der selbst unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen ist und heute in New York lebt. Gebeutelt von der Politik Margaret Thatchers, prägten Arbeitslosigkeit und Armut das Leben vieler Familien im Glasgower East End der 90er-Jahre.
Ein schüchterner, sanfter Teenager
Mungos Vater stirbt vor seiner Geburt, seine alkoholkranke Mutter lässt ihre drei Kinder manchmal mehrere Wochen mit leerem Kühlschrank allein. Hamish, der Älteste, ist ein gefürchteter Bandenführer. Nur Jodie, die ein Jahr ältere Schwester, kümmert sich um ihren kleinen Bruder. Der schüchterne, sanfte Teenager trottet in löchrigen Turnschuhen durch seinen tristen Alltag, erkundet die Gegend zwischen ausgebrannten Autos und aufgeplatzten Sofas. Schliesslich lernt er den etwas älteren Nachbarsjungen James Jamieson kennen, zwischen den beiden entwickelt sich eine zaghafte Beziehung.
Eine brüchige Liebe, die in diesem hypermaskulinen, homophoben Mikrokosmos kaum eine Chance hat. Um ihn zu einem «echten Kerl» zu machen, schickt die Mutter ihren Jüngsten mit zwei zwielichtigen Gestalten auf einen Angelausflug. Mungo, der die Natur bislang nur von Bildern auf Keksdosen oder Touristenbussen kennt, registriert zum ersten Mal die vielen Farben des Himmels. Doch auch dieses zunächst verheissungsvolle Erlebnis wird schon bald brutal durch die ungeheuerliche Realität zerstört. Bereits in seinem autobiografischen Debütroman «Shuggie Bain», ausgezeichnet mit dem Booker Prize 2020, schilderte Stuart eine schwierige Kindheit im rauen Arbeitermilieu Glasgows.
Auch dieses Mal steht eine dreiköpfige, dysfunktionale Familie im Mittelpunkt. Auf mehreren Zeitebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt der Autor in derber Sprache, deren Lokalkolorit Sophie Zeitz wie beim Debüt in ein einfaches Deutsch übersetzt, eine schaurige Coming-of-Age-Geschichte. «Young Mungo» wirkt noch brachialer, noch abgründiger als der Vorgänger.
Unvergessliche Charaktere
Vor dem traurigen sozialrealistischen Hintergrund erzählt Douglas Stuart nicht nur ein unheilvolles Teenager-Liebesdrama, sondern führt dem Leser gleich mehrere tragische Einzelschicksale vor Augen. Wieder schafft er unvergessliche Charaktere, die mal an Charles Dickens’ überzeichnete Bösewichte, mal an Samuel Becketts tragisch-absurde Figuren erinnern. Genau wie Shuggie will auch Mungo dem Elend entfliehen. Immer wieder stechen aus all der Düsternis und Verzweiflung grobe, intime Momente heraus, die zumindest ein wenig Hoffnung auf ein glückliches Ende machen.
Buch
Douglas Stuart - Young Mungo
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
416 Seiten (Hanser Berlin 2023)