Konzeptkünstlerin Eve Laing sitzt in der Londoner U-Bahn und denkt über ihr Leben nach. Sie hat ihre Ehe mit einem berühmten Architekten aufgegeben. Vor allem aber hat sie sich einen jungen Lover genommen. Mit diesem arbeitet sie unentwegt an einem gloriosen Projekt. Es soll ihr den Durchbruch bringen – eine gewaltige Installation mit Blumen aller Art.
Eve selbst ist kein Mauerblümchen. Sie hat ein wildes Leben hinter sich, mit Punk- und anderen Eskapaden. Zwar hat sie sich künstlerisch leidlich geschlagen mit Ausstellungen in London und New York. Aber sie ist stets im Schatten ihrer grossen Rivalin Wanda gestanden – und das lässt ihr Ego nicht zu. Denn dieses ist mindestens so gross wie ihr mächtiges florales Kunstwerk.
Die späte Einsicht der grossen Künstlerin
Wie viele erfolgreiche Künstler arbeitet Eve mit einem Team zusammen. Aber die Stimmung in ihrem Ostlondoner Atelier sinkt kontinuierlich, nachdem sie sich in den 30 Jahre jüngeren Helfer Luka verknallt hat. Dieser gibt ihr das Gefühl, eine grosse Meisterin zu sein. Er schuftet bis zur Selbstaufgabe für Eve und vertreibt das restliche Team: Die alte und die junge Turteltaube finden danach ihre Zweisamkeit in der Kunst. Sollte man meinen, aber wie das Leben so spielt, kommt alles anders, als man denkt. Autorin Annalena McAfee führt die Geschichte zu einem fulminanten Finale. Der Roman ist, abgesehen vom gewaltsamen Ende, eine köstliche Beschreibung der Londoner Kunstszene, eines Jahrmarkts der Eitelkeiten. Die Protagonistin glaubt, diesen zu beherrschen, und merkt zu spät, dass es sich umgekehrt verhält. Der kulturtipp hat mit der Schriftstellerin telefoniert und sich mit ihr über ihre Karikatur des Kunstbetriebs und das Altern unterhalten.
kulturtipp: Sie weilen gerade in den schottischen Highlands. Sind Sie Schottin?
Annalena McAfee: Meine Eltern waren es. Ich fühle mich als Schottin, habe aber auch einen irischen Pass.
Also immer noch eine Bürgerin der EU.
Ja, zum Glück.
Sie karikieren in Ihrem Roman «Blütenschatten» den Kunstbetrieb, warum gerade diesen?
Weil ich ihn von meiner früheren beruflichen Tätigkeit her kenne als Journalistin bei der «Financial Times» oder beim «Guardian». Der Kunstmarkt hat mich immer sehr fasziniert.
Warum?
Kunst ist qualitativ nicht messbar. Es gibt Leute, die mit wenig Aufwand grossen Erfolg haben, ohne etwas zu liefern. Anderseits gibt es die verkannten Genies, die keine Beachtung finden.
Sie machen sich über den Kunstbetrieb lustig.
Ja, denn das ist eine seltsame Welt. Oftmals ist das Marketing für einen Künstler wichtiger als sein Talent.
Das ist in vielen Bereichen des Kulturlebens so.
Stimmt, darum steht der Kunstbetrieb als Metapher für das kulturelle Leben generell.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die alternde Künstlerin Eve Laing, die einen 30 Jahre Jüngeren liebt. Alte Menschen, die Junge lieben, sind in den Augen der anderen immer lächerlich, aber eine Frau noch mehr als ein Mann.
Das hat biologische Gründe und deutet auf gesellschaftliche Stigmatisierung hin. Eine alte Frau ist nicht mehr fortpflanzungsfähig, sie ist ihrer biologischen Aufgabe entledigt. Darum wirkt sie in den Augen der Gesellschaft so lächerlich.
Ihre Künstlerin Eve benimmt sich fürchterlich, und dennoch mag man sie als Leser – warum eigentlich?
Ich bin froh, dass Sie das so sehen. Sie ist tatsächlich eine unangenehme, selbstbezogene Frau, die nur an ihre Kunst denkt. Genau das zeichnet viele männliche Künstler aus, die damit Erfolg haben. Bei Frauen ist das viel weniger akzeptiert.
Muss man radikal sein, um in der Kunst Erfolg zu haben?
Kommt darauf an, wie man Erfolg definiert. Ich würde eher sagen: Man muss sich durch Unverwechselbarkeit auszeichnen.
Ihre Protagonistin Eve ist eine Egoistin.
Das stimmt, einzig Kunst ist ihr wichtig, und das macht sie vielleicht zu einer guten Künstlerin. Nur nett sein mit den Leuten bedeutet nicht, dass man Akzeptanz findet.
Ihre Künstlerin kann sich ihre Extravaganz nur leisten, weil sie mit einem reichen Architekten verheiratet ist.
Richtig, und ich versuche zu zeigen, dass ihr das unangenehm ist.
Sie hasst ihre Tochter.
Weil sie die Mutterschaft ablehnt und nur an ihre Kunst denkt, sodass gar keine Bindung entstehen kann. Solche Fälle gibt es. Vielleicht beneidet sie auch ihre Tochter um ihre Jugend.
Das Altern ist zentral im Buch.
Ja, Frauen verlieren aus Sicht der Gesellschaft mit dem Alter Werte wie Schönheit oder sexuelle Attraktivität. Und das kann vielen zu schaffen machen.
Das Altern ist für uns alle schwierig, und ich nehme an, auch für Sie.
Bei mir ist es ein bisschen anders. Ich war mit 29 Jahren sehr schwer krank und musste damit rechnen zu sterben. Seither bin ich für jedes Lebensjahr dankbar und feiere meine Geburtstage enthusiastisch.
Sie spielen mit Blumen in diesem Roman, die Botanik ist zentral.
Ja, ich habe mich dafür extra weitergebildet und kenne jetzt viel mehr Blumen als früher. Ich habe auch eine App auf meinem Mobiltelefon, um auf Wanderungen Pflanzen zu bestimmen.
Warum setzen Sie im Roman auf ein gewaltsames Ende?
Ich gehöre zu den Menschen, die Gewalt nicht sehen können. Bei brutalen Szenen muss ich den Fernseher ausschalten. Aber in diesem Roman war ein solcher Schluss nötig, um zu zeigen, dass alles verloren ist.
Wo spielt Ihre Person in diesen Roman hinein?
Nun, ich bin keine Künstlerin wie die Protagonistin, und ich habe ein gutes Verhältnis zu meinen Nächsten. Ich bin im Gegensatz zu ihr eine begeisterte Grossmutter. Aber natürlich gibt es Ähnlichkeiten zwischen mir und der Hauptperson, etwa das Gefühl für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten oder wie sie das Leben in London sieht.
Und wie sehen Sie die Stadt?
Mich fasziniert immer wieder dieser konstante Wandel der Metropole. Diese Veränderungen geben einem ein Gefühl für das stetige Altern.
Buch
Annalena McAfee
Blütenschatten
Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda
327 Seiten
(Diogenes 2021)