Ein bisschen Stoff, Holz oder Karton, mehr braucht es nicht, damit die Fantasie Purzelbäume schlägt. Der aus dem Krieg heimgekehrte Walter Oehmichen erzählt seiner Familie in Augsburg, wie er für seine Kameraden ein Marionettentheater inszenierte: «Ich hatte die Puppen aus allem zusammengebaut, was sich eben finden liess, klapprige Dinger waren das, ganz unansehnlich mit ein paar Stofffetzen behangen. Und doch waren sie lebendig. Und meine Kameraden, alles harte Kerle, die grauenvolle Dinge erlebt hatten, wurden plötzlich wieder zu Kindern.»
Mit Marionettenspiel dem Krieg trotzen
Eine prägende Erfahrung für den Theaterregisseur, der schon bald mit seiner Frau Rose und seinen Töchtern Ulla und Hannelore, von allen Hatü genannt, mit Marionetten mitten in der Kriegszeit poetische Fantasiewelten erschaffen wird. Anfangs spielt die Familie mit ihrem «Puppenschrein» im eigenen Wohnzimmer. Bei der Bombennacht 1944 wird das von Walter Oehmichen geleitete Augsburger Stadttheater komplett zerstört. Vom Puppenschrein, der sich an diesem Abend dort befand, sind nur noch verkohlte Reste übrig.
Von diesen Anfängen der Augsburger Puppenkiste erzählt der deutsche Autor Thomas Hettche in seinem klug komponierten Roman «Herzfaden», in dem er historische Fakten und Fiktion verknüpft. Ebenso fängt er die Atmosphäre von Deutschlands dunklen Kriegs- und Nachkriegsjahren ein, in denen die Menschen einen Umgang mit den Gräueln des Nationalsozialismus suchen mussten.
Hettche erzählt aus der Perspektive von Walters Tochter Hatü, die schon in jungen Jahren für den Marionettenbau und das -spiel entbrannte. Nach dem Krieg überredet sie ihren Vater, auch moderne Stücke wie «Der kleine Prinz» zu spielen, und führt so die Augsburger Puppenkiste weiter zum Erfolg.
Dieser historischen Ebene fügt der Autor eine zweite, märchenhafte hinzu, die in der Gegenwart spielt: Ein Mädchen gelangt nach einer Puppentheater-Aufführung auf einen Estrich und begegnet dort Hatü und ihren lebendig gewordenen Marionetten. Zusammen mit Jim Knopf, dem Erdmännchen-König Kalle Wirsch und dem Dino Urmel erlebt es ein Abenteuer auf der Suche nach dem vermeintlich bösen Kasperle, vor dem sich Hatü im Krieg gefürchtet hat. Im Buch ist diese zweite Ebene in roter Schrift hervorgehoben. Dazu kommen 27 Zeichnungen von Matthias Beckmann, der die filigranen Figuren ebenso berührend einfängt wie Hettche mit seiner Geschichte.
Bis zum Erfolg vor dem Fernseh-Publikum
Der Roman führt bis in die 50er und 60er: Als eine der ersten Sendungen des deutschen Fernsehens kommt 1953 die Augsburger Puppenkiste mit «Peter und der Wolf» vors TV-Publikum. Stücke wie «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer» werden mehrere Generationen begeistern. Auch hier stellt sich wieder derselbe Effekt ein wie damals bei den kriegstraumatisierten Soldaten, als der Funke der Fantasie übersprang. Eine blauglitzernde Folie wird im Kopfkino zum wogenden Meer und die an Fäden heranschwebenden Holzfiguren zu lebendigen Figuren aus Jim Knopfs Lummerland.
Radio
«52 beste Bücher» mit Thomas Hettche
So, 22.11., 11.03 Radio SRF 2 Kultur
Thomas Hettche liest aus «Herzfaden»
Mi, 2.12., 21.00 DLF
Buch
Thomas Hettche
Herzfaden
288 Seiten
Illustrationen: Matthias Beckmann
(Kiepenheuer & Witsch)