Am Morgen ist Pfarrer Russ Hildebrandt unterwegs zu den Bettlägerigen und Senilen seiner Gemeinde. Am Nachmittag will er zusammen mit Frances Cottrell Spielzeug und Konserven zu den schwarzen Mitbürgern bringen. Ihm liegt viel an dieser Frau, magisch zieht ihn die junge Witwe eines Kampfpiloten an – was weder seiner Frau Marion noch seinen Kindern entgangen ist.
Der Tag wird lang werden, den Jonathan Franzen in seinem neuen Roman «Crossroads» über mehrere Hundert Seiten aus unterschiedlicher Perspektive beschreibt. Er wird Abgründe aufreissen und einige Wochen später in der erbarmungslos rauen Welt eines Reservats tiefe Konsequenzen zeitigen. Marion wird den Nachmittag bei ihrer Psychiaterin verbringen und jene schmerzhafte Geschichte erzählen, von der sie ihrem Mann nie ein Wort gesagt hat.
Getrieben von Hoffnung, gelähmt von Erschöpfung
Clem, der älteste Sohn, hat einen folgenschweren Entscheid für sich und seine Freundin gefällt. Becky, seine jüngere Schwester, lebt im Hochgefühl des ersten Kusses, den ihr der umworbene Musiker Tanner Evans gegeben hat. Perry, ihr jüngerer Bruder, taumelt zugedröhnt durch die Szenerie und gleitet langsam ins Dunkel ab. Er ist das Sorgenkind der Hildebrandts – und Judson, der Jüngste, ihr kindlicher Sonnenschein.
Mit Ausnahme von Judson stehen alle Familienmitglieder an einer Wegscheide des Lebens, mal getrieben von Hoffnung, dann wieder gelähmt von Ratlosigkeit und Erschöpfung. Und der 62-jährige Autor aus Chicago, der mit «Die Korrekturen» 2001 einen globalen Hit landete, treibt in souveräner Beherrschung des Stoffes jene Schicksale voran, die sich im Pfarrhaus, im Kirchgemeindehaus und im Konzertsaal kreuzen. Der Vietnamkrieg geht seinem Ende entgegen, Amerikas Jugend rebelliert, die Bürgerrechtsbewegung macht mobil gegen die Rassendiskriminierung. Pfarrer Hildebrandt glaubt, mit seinem Einsatz für die Schwarzen und die Navajo-Ureinwohner auf der richtigen Seite zu stehen, doch die Jungen verachten ihn und schliessen ihn aus. Ihnen fehlt, was er so gerne predigt: Demut.
Zum Prüfstein für diese Demut wird die Religion. Selten zeigt sie sich als das, was ihren Kern ausmacht: dass sie ein Gespräch des Menschen mit sich selbst sein kann, in aller Ehrlichkeit, aber getragen von jener Zuneigung, die Jonathan Franzen seinen Figuren in einem beeindruckenden Mass angedeihen lässt. Weit öfter begründet Religion Rechthaberei und Ausgrenzung und dient einer selbstgerechten Gesellschaft als Fassade. Oder, noch schlimmer, sie weckt tiefe, unlösbare Schuldgefühle. Es wird viel gebetet in «Crossroads», und immer wenn dies geschieht, sollte man aufpassen.
Träume zerplatzen, die Sehnsucht bleibt
Der literarische Rang von «Crossroads» liegt in seiner einfühlsamen Kraft und seiner Vielschichtigkeit. Es ist eine Litanei des unablässigen Scheiterns seiner Protagonisten – und dennoch voller Überraschung und nicht ohne Hoffnung. Denn wenn Träume zerplatzen – und es zerplatzen viele Träume in diesem Buch –, dann bleibt etwas übrig. Man könnte es das wahre Leben nennen.
Jonathan Franzen
Crossroads
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
826 Seiten
(Rowohlt 2021)