Die Iren beten meist dann, wenn die Dinge schlecht stehen. Wenn jemand im Sterben liegt oder – schlimmer – wenn der finanzielle und somit gesellschaftliche Abstieg droht. Für die Familie Barnes beten die Rentnerinnen im Ort täglich. Deren traditionsreiches Autohaus serbelt nämlich. Welche Schmach! In «Der Stich der Biene» erzählt der irische Schriftsteller Paul Murray die Geschichte einer Familie vor dem Hintergrund der Bankenkrise von 2008. Die Hauptstrasse des fiktiven Provinzstädtchens gleicht mit ihren leeren Läden einem zahnlosen Mund.
Und so, wie die halbfertigen Siedlungen aus den Boomjahren zerfallen, bröckelt auch der Zusammenhalt zwischen Dickie, Imelda und den Kindern Cass und PJ. Doch hat das womöglich gar nichts mit dem Ende ihres Luxuslebens zu tun, sondern mit Vergangenem – einem Bienenstich etwa oder einer Hochzeit, die so nie geplant war?
Witziges und Tragisches aus der irischen Provinz
Murrays vierter Roman ist eine monumentale Familiensaga, die auf jeder ihrer 700 Seiten elektrisiert. Der Stil des 49-jährigen Dubliners ist eine Art irische Version des magischen Realismus: Wunderbar und voller wohlwollender Ironie beschreibt Murray das provinzielle Irland der «plumpen Kartoffelmenschen» mit ihrer Kleingeistigkeit, dem katholischen Moralismus und Aberglauben.
Den witzigen Grundton durchbricht der Autor aber immer wieder mit Abgründigem, Tragischem. Bisweilen wechselt die Stimmung so unvermittelt wie das Wetter in Irland. Sorgenvoll, aber fasziniert sucht man als Leser dann die Buchseiten nach den nächsten dunklen Wolken ab. Der Roman fesselt auch, weil Murray allen Protagonisten eine eigene Stimme gibt.
Dickies leises Grübeln, Cass’ Teenagerwankelmut, Imeldas satzzeichenloser Gedankenschwall, PJs kindliche Naivität – die unterschiedlichen Erinnerungen und gegensätzlichen Wahrnehmungen sorgen für Witz und schliessen Lücken in der Erzählung. Zugleich lässt uns Murray an den Hoffnungen, verpatzten Träumen und existenziellen Ängsten dieser Menschen teilhaben. Wie sie sich plötzlich ähneln, in diesem Gefühl des drohenden Untergangs! Doch ist im Leben jemals wirklich alles verloren?
Vielleicht hilft beten ja doch: «O heilige Mutter des Sohnes Gottes, unbefleckte Jungfrau, hilf mir in dieser meiner Not…»
Buch
Paul Murray
Der Stich der Biene
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
700 Seiten
(Kunstmann 2024)