«Porajmos» ist Romanes und heisst so viel wie «verschlingen». Es ist die Bezeichnung für den Genozid an den Roma in den Zeiten des Nationalsozialismus. Eine halbe Million Roma wurde damals in den Konzentrationslagern umgebracht. Rund vier Jahrzehnte später, 1982, wird ein Molotowcocktail in das Haus der Familie Jovanovic geworfen.
Glücklicherweise können alle aus dem brennenden Haus flüchten, werden aber draussen von deutschen Neonazis mit Pflastersteinen attackiert. Gianni Jovanovic, damals noch ein Kind, ist heute 45 Jahre alt, er gehört zur Gruppe der Roma, ist Unternehmer, Grossvater und schwul. Und seit neustem ist der selbstbewusste Mann auch Buchautor.
In seiner Biografie «Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit», die er mit der Journalistin Oyindamola Alashe geschrieben hat, erzählt er von seinem Kampf gegen Rassismus und Homophobie. Und von der verfehlten Inklusion einer ganzen Völkergruppe, die seit über sechs Jahrhunderten in Europa zu Hause ist, die aber offenbar niemand hier haben will.
Mit 18 Jahren zweifacher Vater
Giannis Eltern kamen als junge Erwachsene im Alter von 15 Jahren nach Deutschland mit der Hoffnung, dort ein besseres Leben als in ihrer Heimat im früheren Jugoslawien führen zu können. Die deutsche «Willkommenskultur» bedeutete für die junge Familie aber Heimatlosigkeit, Gewalt und Ausgrenzung. Von Mörfelden-Walldorf nach Rüsselsheim, über Darmstadt und Nürnberg und später nach Frankfurt und Köln: Die vielen Umzüge waren nicht etwa Auswuchs eines «Nomadentriebs», wie ein Vorurteil lautet, sondern gründeten schlichtweg in der Angst vor Stigmatisierung, in behördlichem Rassismus und fehlenden Jobangeboten.
Doch die Diskriminierung kam für Gianni nicht nur von aussen. Mit 14 wurde er mit einem 13-jährigen Mädchen verheiratet. Die Kinder bekamen zwei Jahre später selber Kinder – mit 18 Jahren war Gianni zweifacher Vater. Der Junge, der damals schon wusste, dass er andere Jungen mochte, musste in den kommenden Jahren ein Doppelleben führen: an den Wochenenden in der schillernden Queerszene in Köln, unter der Woche zu Hause mit Frau, Kindern und Eltern.
Doch nebst all dem Streit und den tiefen Verletzungen gab es auch viel Wärme in seiner Familie, sagt Jovanovic heute: «Meine Grossmutter hat mal zu mir gesagt: ‹Den Weissen gehören die Häuser, das Geld und das Land. Und uns Roma gehört die Liebe.›» Trotz vielen Gewalterfahrungen und der Dunkelheit, die seine Familie erlebte, ist Gianni Jovanovic heute ein erfolgreicher Mann. Seine Biografie gleicht anderen Schicksalen von Roma und Sinti, die kämpfen mussten für das, was sie heute haben.
Es sind stolze und brutale Geschichten, die erzählt werden wollen. «Wir hören immer wieder, dass unser Buch zu gewaltvoll sei. Aber unsere Kinder leben, spielen, atmen und weinen in dieser Gewaltspirale. Sie können es sich nicht aussuchen. Es ist ein extremes Privileg, Nein zu unserer Geschichte zu sagen», betont Jovanovic.
Die Vorurteile halten sich in den Köpfen
Auch der Co-Autorin Oyindamola Alashe ist bei ihren Recherchearbeiten klar geworden: In der deutschen Gesellschaft und in ganz Europa erhält kaum eine andere Gruppe so wenig Raum wie die Roma und Sinti. Einen Grund dafür sieht sie in der misslungenen Erinnerungskultur, wie sie sagt: «Bestimmte Dinge wurden verschwiegen.
Roma und Sinti sind aus ganz Europa in die KZ gebracht worden. Man hat den Menschen sprichwörtlich einen Stempel aufgedrückt und sie als ‹asozial› bezeichnet. Ihre Ermordung in den KZ ist ein Fakt. Damit sollte sich jeder Mensch auseinandersetzen und sich fragen, ob man bereit ist, diese Stigmata weiter zu reproduzieren.»
All diese Vorurteile, die bis heute hartnäckig in den Köpfen der «Gadjé», der Nicht-Roma, verankert sind, sind für Gianni Alltag: «Die Menschen haben Angst vor uns. Entweder denken sie, dass wir okkult sind und sie verfluchen oder dass wir sie beklauen. All diese Narrative sind festgesetzt. Das ist einer der Gründe, weshalb unsere Gemeinschaft nach wie vor so viel Hass ausgesetzt ist.» Er wünscht sich, dass die Schönheit und die Vielfalt der verschiedenen Lebensrealitäten in der Arbeitswelt und im Bildungswesen widergespiegelt werden, dass Roma und Sinti nicht nur in repräsentativen Positionen an die Front gesetzt werden. «Dann leben wir das, was wir auf der Strasse haben: Reichtum.»
Gianni Jovanovic und Oyindamola Alashe
Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit
224 Seiten (Blumenbar 2022)
Jenische Literatur in der Schweiz
Auch in der Schweiz leiden Roma, Sinti und Jenische unter den Vorurteilen in der Bevölkerung und unter institutionellem Rassismus. Es ist noch keine 60 Jahre her, als Kinder – insbesondere von Jenischen – den Familien weggenommen und in Pflegefamilien, Heime und Erziehungsanstalten gesteckt wurden, wo sie oft Gewalt und Missbrauch erfuhren.
Unter der Bezeichnung «Hilfswerk für Kinder der Landstrasse» hat die Schweizer Hilfsorganisation Pro Juventute damals fast 600 Kinder ihren Familien gewaltsam entrissen. Eine strafrechtliche Untersuchung der Hauptakteure gab es nie. Bis heute trauen sich viele Angehörige dieser Gruppen nicht, ihre Herkunft in ihrem Umfeld preiszugeben. Viel zu gross ist die Angst vor Diskriminierung. 2016 wurden die Jenischen und Sinti als nationale Minderheiten anerkannt. Die Roma kämpfen aber weiterhin für ihre Anerkennung.
Klassiker
Mariella Mehr (1947–2022)
Obwohl die Journalistin, Aktivistin und Autorin jenische Wurzeln hatte, hat sie sich als Roma-Schriftstellerin verstanden. Sie gehörte als Kind zu den Opfern des sogenannten «Hilfswerks für Kinder der Landstrasse». In der Trilogie «Daskind – Brandzauber – Angeklagt» ist diese Wut physisch spürbar. Und dennoch schafft es Mariella Mehr, dem Traumatischen auch zärtlich zu begegnen.
Mariella Mehr
Daskind – Brandzauber – Angeklagt
384 Seiten (Limmat 2017)
Willi Wottreng (* 1948)
Der Journalist, Historiker und Schriftsteller hat zwar selbst keine jenischen Wurzeln, er steht aber in engem Kontakt mit der Gemeinschaft und ist Geschäftsführer der Radgenossenschaft der Landstrasse. In seinem Buch «Jenische Reise» beschreibt er die Geschichte der 888 Jahre alten Anna und zeichnet damit die Geschichte der Jenischen in Europa nach.
Willi Wottreng
Jenische Reise
212 Seiten (Bilger 2020)