Die ersten Tage nach dem Ereignis, das im Radio, in den Zeitungen und im Fernsehen die Befreiung genannt wurde, geschah so viel Neues, Unerwartetes und Furchteinflössendes, dass Leander Selbig sich weigerte, sein Zimmer zu verlassen. Er sprach kein Wort und wollte niemandem zuhören, also liess man ihn vorerst in Ruhe. Weil er die Hausmannskost, die ihm vorgesetzt wurde, nicht anrührte, ernährte er sich bald ausschliesslich von getrockneten Mangos, Papayas und Kiwis, von Datteln und Feigen, von Rosinen und Pekannüssen, von Marzipan, Nougat und Türkischem Honig, von Hefegebäck mit Vanillecreme und Mandelsplittern, von Lakritze und Süssholz und Lavendelbonbons. Sein Heisshunger auf Exotisches liess nicht nach, wenn es nur weit weg war von gestampften Kartoffeln und Schaffleisch, wenn es ungewohnt war und aufregend für Zunge und Gaumen. Dazu trank er Säfte aus Obst, dessen Existenz man ihm bisher verschwiegen hatte, weil es den Makel des nicht Heimischen trug, Orange, Ananas, Passionsfrucht, jedes erdenkliche fremde Gewächs, das den langen Weg über die Ozeane bis ins Haus seiner Tante in Münster geschafft hatte. Er schüttete die tropischen Flüssigkeiten in solchen Mengen in sich hinein, dass sein Magen regelmässig rebellierte und er gezwungen war, eine Diät aus Bananen und dunkler Schokolade einzulegen und Tee zu sich zu nehmen, freilich nicht Kamille oder Fenchel, sondern auf fernen Kontinenten wachsende Sorten wie Rooibos, Darjeeling, Jasmin.
Meret Weiss, die unverheiratete ältere Schwester seiner im Gefängnis auf ihren Prozess wartenden Mutter, hatte sich noch bis zum Tag der ersten Begegnung ausgemalt, wie sie den Jungen ins neue, richtige Leben begleiten würde, behutsam und Schritt für Schritt, aber jetzt kam es ihr schon wie ein Erfolg vor, wenn er nicht ständig weinte oder in seinem Zimmer auf und ab lief wie Rilkes Panther. Sie hatte mit ihm ins Kino gehen wollen, auf den Jahrmarkt, ins Museum für Naturkunde und in die Bibliothek, hatte einen Ausflug zu den Seen im Umland geplant und einen an die Küste, damit Leander zum ersten Mal das Meer sah. Nun deutete alles darauf hin, dass es noch Wochen, vielleicht Monate dauern würde, bis ihr aus dem Nichts aufgetauchter Neffe bereit wäre, auch nur das Haus zu verlassen.
An jedem Montag, Mittwoch und Freitag kam ein Psychiater vorbei, den das Jugendamt schickte und dessen Aufgabe es war, dem Jungen einerseits etwas dem seelischen Heilungsprozess Zuträgliches zu entlocken und ihm andererseits die elementarsten Begriffe menschlicher Koexistenz nahezubringen. Für die Fachleute, die sich mit Leander beschäftigt und der Unterbringung bei seiner Tante zugestimmt hatten, schien gesichert, dass nicht nur das Gemüt des Zwölfjährigen beschädigt worden war und therapiert werden musste, sondern dass auch seine soziale Entwicklung stark gelitten hatte und der von der Wirklichkeit völlig überforderte Junge dringend auf Hilfe beim Umgang mit der von ihm zweifelsohne als bedrohlich empfundenen Welt angewiesen war, oder, in den Worten Dr. Borns, eine umfassende Schulung zum Überleben brauchte.
Bei seinen Besuchen setzte sich Ewald Born, ein schlanker, gross gewachsener Mann Anfang vierzig, auf den Stuhl am Schreibtisch, während Leander mit geschlossenen Augen und über dem Bauch gefalteten Händen auf dem Bett lag. Zu Beginn hatte der Junge sich noch geweigert, den Fremden, der ihm als der Mann, der dir helfen wird, zurechtzukommen, angekündigt worden war, in sein Zimmer zu lassen, hatte das Bett und den Tisch vor die Tür geschoben und sich die Finger in die Ohren gesteckt, damit er das sanfte Rufen seiner Tante, Dr. Borns beruhigende Floskeln und das schabende Geräusch nicht hörte, wenn die Möbel behutsam aus dem Weg geräumt wurden.
Es hatte eine Woche gedauert, bis Leander die Sinnlosigkeit seines Barrikadenbaus einsah und es fortan dabei beliess, sich tot zu stellen. Dennoch blieb Dr. Born, nachdem er angeklopft, seinen Namen genannt und die Tür geöffnet hatte, jeweils für einen Moment auf der Schwelle stehen, um dem Betreten des Zimmers zumindest den Anschein eines in beidseitigem Einverständnis arrangierten Treffens zu verleihen, ging dann an seinen Platz am Fenster, zog den Vorhang ein Stück zurück, damit etwas Licht in den Raum drang, und breitete langsam und sorgfältig die Gegenstände aus seiner Ledermappe auf der Tischfläche aus. Sobald alles an seinem Ort lag, drehte er den Stuhl so, dass er den Jungen im Halbdunkel sehen konnte, lockerte den Krawattenknoten, schlug sich eher symbolisch als enthusiastisch mit den Handflächen auf die Oberschenkel und sagte: «Also dann, beginnen wir.» Diesem Ausspruch liess er jedes Mal sekundenlange Tatenlosigkeit folgen, als zweifle er plötzlich am Nutzen seines Besuchs oder als lähmten ihn die Last der Verantwortung und die nicht geringe Wahrscheinlichkeit des Versagens, die mit dem Fall einhergingen. Aber dann, weil er pflichtbewusst und ehrgeizig war und weil die Frau, die dieses stille Kind beherbergte, ihn nach der Sitzung auf einen Kaffee in die Küche bitten würde, holte er jedes Mal tief Luft, griff nach einem der Bücher oder Notizblöcke auf dem Tisch und schickte sich erneut an, etwas zu erreichen, das man mit viel gutem Willen als kleinen Durchbruch bei der Behandlung des Jungen hätte bezeichnen können.
Während Dr. Born sprach, hielt Leander die Augen geschlossen oder starrte an die Decke. Nur wenn der Mann ihn dazu aufforderte, blinzelte er hinüber und betrachtete teilnahmslos das in ein Heft geklebte Bild eines Fahrrads, eines Autos, einer Strassenbahn, einer Verkehrsampel. Den mit tiefer, ruhiger Stimme vorgetragenen Erläuterungen, Ratschlägen und Warnungen hörte er jedoch nicht zu, schloss die Augen und dachte darüber nach, wie es wohl wäre, tatsächlich tot zu sein.
Auszug aus:
Rolf Lappert
Leben ist ein unregelmässiges Verb
Erscheint am Mo, 17.8.
© 2020 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG München
Lesungen
Di, 18.8., 19.30 Aargauer Kantonsbibliothek Aarau
Mi, 19.8., 19.00 Garten Christoph Merian Stiftung Basel
Rolf Lappert
Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und wuchs in Olten und Zofingen auf. Er machte eine Lehre als Grafiker und veröffentlichte in den 80er-Jahren erste Romane und Gedichte. Er arbeitete als Drehbuchautor und gründete mit einem Freund einen Jazzclub, bevor er sich wieder ganz dem Schreiben widmete. 2008 erhielt er für den Roman «Nach Hause schwimmen» den ersten Schweizer Buchpreis. Es folgten Romane wie «Auf den Inseln des letzten Lichts» oder «Pampa Blues». Am Mo, 17.8., erscheint sein neuer Roman «Leben ist ein unregelmässiges Verb» rund um vier Kinder, die versteckt von der Welt aufgewachsen sind. Nach über 20 Jahren im Ausland lebt Rolf Lappert seit 2011 wieder in der Schweiz.