Die aus der Gesellschaft Gefallenen bevölkern Rolf Lapperts Bücher: Randständige, Flüchtlinge, Aussenseiter, Einsame tauchen in Haupt- und Nebenrollen immer wieder auf. Zu ihnen gehört der 50-jährige Lennard Salm, der Protagonist im neuen Roman. Er ist zwar privilegiert, als Künstler erfolgreich und finanziert von einem Mäzen. Aber er sieht keinen Sinn mehr hinter seinen vermeintlich gesellschaftskritischen Arbeiten. Und auch privat steckt der chronisch übermüdete Künstler in einer Midlife-Crisis: Alle seine Beziehungen sind gescheitert, er fühlt sich nirgends zu Hause, und zu seiner Familie hat er nur einen losen Kontakt.
Das ändert sich, als seine Schwester Helene stirbt und er zur Beerdigung in seine Heimatstadt Hamburg zurückkehrt. Anfangs lässt er die Erinnerungen nur widerwillig zu. Nach und nach zeigt sich der tiefe Riss, der sich durch die Familie Salm zieht: Auf der einen Seite stehen Lennard, seine Hippie-Schwester Bille und der Vater, der seinen Traum, als Vulkanologe in der Welt herumzureisen, nicht ausleben konnte. Auf der anderen Seite finden sich der biedere Halbbruder Paul und die strenge, kühle Mutter, «die norwegische Königin», der Lennard nie verzeihen konnte, dass sie seinen Vater betrogen hatte. Die ältere, an einem Herzfehler leidende Schwester Helene stand stets dazwischen.
Einsamer Nomade
Die Rückkehr in die Heimat, in das ehemals heruntergekommene Hamburger Viertel Wilhelmsburg, wird für Lennard zum Wendepunkt. Er realisiert, dass er sich in der Cüpli-Kunst-Szene von früher nicht mehr wohlfühlt und dass ihm seine Familie wichtig ist. Mutter und Halbbruder bleiben ihm zwar fremd, aber die Verbindung zu seiner Schwester Bille und vor allem zu seinem gebrechlichen Vater wird tiefer. Hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu ihm und dem Wunsch nach Unabhängigkeit, entscheidet er sich, vorläufig für seinen Vater zu sorgen.
Die äusseren Ereignisse sind im Roman rar gesät. Im Inneren seines Protagonisten brodelt es zwar, aber er stagniert: «In letzter Zeit fiel es ihm schwer, seine Lebenssituation einer genauen Betrachtung zu unterziehen, Pläne zu machen oder auch nur einen klaren, in die Zukunft weisenden Gedanken zu fassen.» In dieser unbestimmten Haltung verharrt er über weite Strecken des Romans. Er ist ein einsamer Nomade, der sich aus seiner Verlorenheit nicht befreien kann. Während er durch das winterlich verlassene Wilhelmsburg streift, verschieben sich seine Prioritäten – bis zum Befreiungsschlag aus dem alten Leben ist es aber ein weiter Weg.
Gemächliche Gangart
Lennards Koffer, der bei seiner Rückkehr auf dem Flug verloren gegangen ist und eine absurde Odyssee durch die Welt mitmacht, ist ein wiederkehrendes Motiv für diese Rastlosigkeit. Am Schluss taucht der Koffer wieder auf. Aber der Protagonist kann mit dem Inhalt, den er für sein Kunstprojekt verwenden wollte, nichts mehr anfangen.
Lappert schlägt eine gemächliche Gangart an, was etwa der Kritiker der «Süddeutschen Zeitung» beanstandete. Das langsame Tempo von Lennards innerem Wandel hat bei ihm Ungeduld ausgelöst. Wenn man sich aber darauf einlässt, entfaltet das Buch einen eigenen Sog. Wie Filmszenen ziehen Lapperts detailreiche Beschreibungen am inneren Auge vorbei: Keine Action-Szenen, aber berührende, manchmal skurrile und poetisch fein gewobene Alltagsbegegnungen. Etwa der Besuch beim türkischen Schneider in seiner mit Hunderten von Stoffen ausgestatteten Höhle, wo sich Hund und Katze fläzen und eine zahme Amsel zwitschert. Der alte Mann spendet ihm mit seinen Geschichten über komische Vögel ein wenig Trost – und gibt ihm eine kurze Auszeit von der rauen Welt.
Vier Fragen an Rolf Lappert
«Der Begriff Heimat löst in mir nicht viel aus»
kulturtipp: Ihr Protagonist kehrt nach einem Todesfall zu seiner Familie zurück. Was hat Sie literarisch am Mikrokosmos Familie interessiert?
Rolf Lappert: Familien sind kleine Welten. Will man über das Leben schreiben, über die Gesellschaft, soziale und politische Themen und über die Wechselspiele von Beziehungen, bietet es sich an, von einer Familie zu erzählen, weil sich dort alles bündelt.
Als Antithese zur Gemeinschaft «Familie» steht Philip Roths Zitat, das dem letzten Kapitel vorangestellt ist: «Wir sind allein, absolut allein, und immer erwartet uns nichts anderes als eine weitere, noch dickere Schicht Einsamkeit.» Ein pessimistisches Weltbild …
Obwohl mein Protagonist im Verlauf der Geschichte allmählich in seine Familie zurückfindet, bleibt die Gewissheit, dass man letztlich alleine ist – vor allem, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen: zu bleiben oder erneut zu gehen, Verantwortung zu übernehmen oder das alte Nomadenleben wieder aufzunehmen. Der Satz von Roth soll auch signalisieren: Die Geschichte hier geht zwar vermeintlich gut aus, aber dieses Gefühl der Verlorenheit bleibt, denn es ist eine der Grundempfindungen im menschlichen Dasein. Natürlich kann man diese Einsamkeitsschicht durchbrechen, Freunde suchen, Gruppen bilden und Familien gründen. Doch gerade in den dunklen Momenten der Existenz ist man auf sich selbst zurückgeworfen und muss sehen, wie man ans Licht kommt. Das Zitat soll provozieren, im besten Fall ein entschiedenes Nein hervorrufen: Stimmt nicht, wir sind zwar jeder für sich einsam, aber wenn wir etwas dagegen tun, erwarten uns statt Einsamkeit Gemeinsamkeit, Empathie, Schutz.
Was fesselt Sie an diesen rastlosen Figuren, oft Aussenseiter, die auch in Ihren anderen Romanen auftauchen?
Da geht es auch um Dramaturgie: Rastlose Randgestalten ergeben die spannenderen Charaktere für eine Geschichte als sesshafte Durchschnittsbürger. Diese Aussage ist natürlich pure Behauptung; bestimmt liesse sich auch ein grossartiger Roman über einen unauffälligen Menschen schreiben, der sein Leben lang im gleichen Ort wohnt. Unscheinbare, beinahe unsichtbare Menschen kommen in meinen Büchern ja auch vor, weil es im wirklichen Leben so viele gibt und die Darstellung ihrer Existenz notwendig ist. Eine Geschichte ohne sie wäre nicht wahrhaftig.
Ihr Protagonist ist ein einsamer Wolf, der bisher nirgends Wurzeln geschlagen hat. Sie selbst haben lange in Irland gelebt und sind nun wieder in die Schweiz zurückgekehrt. Was bedeutet Ihnen Heimat?
Der Begriff Heimat löst in mir nicht viel aus, das Wort Zuhause aber schon. Zuhause ist für mich ein Gemütszustand, eine Befindlichkeit des Herzens sozusagen. Zuhause bedeutet für mich Familie, Freunde, aber auch Orte, an denen ich mich wohlfühle. Zuhause kann sogar ein Buch sein, in dem ich für ein paar Stunden wohne. Bei Heimat denke ich an die Schweiz, ans Heimatland, da kommen nur dann grosse Emotionen auf, wenn die Fussballnationalmannschaft spielt oder eine wichtige nationale Volksabstimmung ansteht.
Interview: Babina Cathomen
Buch
Rolf Lappert
«Über den Winter»
384 Seiten
(Hanser 2015).
Lesungen
Mi, 9.9., 19.30 Stadtbibliothek Zofingen AG
Anmeldung erforderlich: stadtbibliothek@zofingen.ch
Do, 10.9., 20.00 Scheidegger Bücher Affoltern am Albis ZH
Fr, 18.9., 20.00 Schloss Blankenburg Zweisimmen BE (im Rahmen von «Literarischer Herbst Gstaad»)
www.literarischerherbst.ch