Ich war in meinem Schreibatelier in der Altstadt von Biel, als plötzlich das Handy klingelte. Ich nahm ab. Am anderen Ende war Mutter. Mit tränenerstickter Stimme teilte sie mir mit, dass Grossmutter im Sterben liege. «Wenn du sie noch einmal lebend sehen und dich von ihr verabschieden willst», sagte Mutter schluchzend, «dann musst du dich beeilen.» Mir verschlug es den Atem. Mutter fragte, ob ich noch dran sei. «Ja», entwich mir mit belegter Stimme. «Ich komme sofort.» Dann eilte ich aus dem Atelier und sprang aufs Fahrrad. Noch während ich gedankenleer und gehetzt durch die Strassen nach Hause schoss, setzte der Tränenlauf ein.
Mit Elizabeth, meiner Frau, die von Mutter in der Zwischenzeit über Grossmutters Zustand informiert worden war, packte ich das Nötigste in eine Tasche. Von Biel über Bern nach Kandersteg und von dort mit dem Verladezug donnernd durch den Lötschberg nach Goppenstein. Und wieder runter ins Tal und dann wieder hoch bis nach Albinen.
In diesem kleinen Bergdorf, dessen Kern aus dicht aneinandergebauten, von der Sonne geschwärzten Holzhäusern besteht, ist Grossmutter am 5. August 1915 als jüngstes von zehn Kindern auf die Welt gekommen. Von klein auf ist sie es gewohnt, im elterlichen Bergbauernbetrieb Hand anzulegen. Im Frühling hilft sie ihren Eltern und Geschwistern bei der Bestellung des Gartens und der Äcker in den steilen Flanken unterhalb des Dorfs. Im Sommer unterstützt sie ihre Mutter, die Sennerin auf der Torrentalp ist, beim Misten, Melken und Käsen, wendet auf abschüssigen Matten das Heu. Im Herbst gräbt sie Kartoffeln, schlachtet Hühner. Nur von Herbst bis Frühling geht sie in die Dorfschule. Eine hervorragende Schülerin sei sie gewesen, hat sie mir einmal anvertraut, vor allem das Lesen von Geschichten und Gedichten habe sie beglückt.
Als junge Frau verlässt sie zum ersten Mal für längere Zeit ihr Heimatdorf. Sie hat eine vorübergehende Anstellung als Hilfskraft in einem Luxushotel im Berner Oberland gefunden. Dort reinigt sie Zimmer, bezieht Betten, wäscht das dreckige Geschirr ab. Diese Tätigkeit übt sie einen weiteren Sommer aus. Doch dann kehrt sie zurück nach Albinen – und bleibt. Und das, obschon sie, der strengen Arbeit wegen, am liebsten weggezogen wäre. Hinunter ins Tal, wo es flach ist und die Arbeit, in ihrer Vorstellung, weniger anstrengend. Oder gar weiter weg. In den Kanton Fribourg oder nach Schaffhausen.
Doch schon bald lernt sie den zwei Jahre älteren Oskar Mathieu kennen und lieben. Oskar muss Ida versprechen, dass er Albinen mit ihr verlassen werde – dann nimmt sie ihn zum Mann und hat sechs Kinder mit ihm, darunter meine Mutter Annemarie. Oskar ist ein liebevoller Ehemann und Vater, aber er kann sich bald nicht mehr vorstellen, Albinen den Rücken zu kehren. Hier sind seine Leute, hier kennt er jede Scheune und jeden Baum, hier ist er zu Hause. Grossvaters kompromisslose Verwurzelung in Albinen enttäuscht Grossmutter zusehends. Sie sucht sich ihre eigene Welt. Durchwacht die Nacht. Setzt sich im Kerzenschein an den Küchentisch. Beginnt zu schreiben. Sie führt Tagebuch und dichtet, so, wie sie es aus der Schulzeit kennt. In vierzeiligen Strophen, zumeist Kreuzreimen.
Ich glaube, es war Grossmutters verzweifelter Versuch, in ihrem entbehrungsreichen, von Enttäuschungen und Verlusten gezeichneten Leben, in dem sie als Frau nur wenig mitbestimmten konnte, eine Stimme zu finden, die nur ihr gehörte – und sonst keinem. «Im Kopf hätte ich ja so einiges gehabt», sagte sie mir einmal, als ich sie für ein Hörspiel fürs Schweizer Radio und Fernsehen interviewte. Und dann schaute sie mich lächelnd an und fügte hinzu: «Am liebsten wäre ich Schriftstellerin geworden.»
Mit den Jahren entstehen zahlreiche Gedichte, die sie alle in einem Ordner aufbewahrt. Schliesslich will sie die Texte in einer Auswahl als Buch herausgeben. Meine Mutter erklärt sich bereit, die Gedichte abzutippen und sie mit Grossmutter in eine Reihenfolge zu bringen. Eine kleine Druckerei in Brig übernimmt den Rest. Und so kann Grossmutter ihren Verwandten an Weihnachten 2004 stolz und etwas verlegen zugleich ihr Buch überreichen.
Auf dem Dorfplatz in Albinen angekommen, stiegen Elizabeth und ich rasch aus dem Auto und gingen durch die Hauptgasse hinauf zu Grossmutters Haus. Um den Küchentisch, an dem Grossmutter geschrieben und uns ihre Gedichte vorgelesen hatte, sassen meine Tanten und mein Onkel, mein Vater und meine Brüder. Leere Blicke. Wir umarmten einander. Dann gingen meine Frau und ich von der Küche durch die Stube zu Grossmutter. Meine Mutter sass auf einem Stuhl unmittelbar neben Grossmutters Bett und hielt ihre Hand. Grossmutter war mitten im Todeskampf.
Ich legte meine Hand auf Mutters Schulter. Sie stand auf. Wir sahen einander an. Nie werde ich die abgrundtiefe Trauer vergessen, die mir entgegensah. Wir drückten einander inniglich. Als wir uns wieder aus unserer Umarmung gelöst hatten und Elizabeth ihren freien Arm um Mutter gelegt hatte, sah ich plötzlich auf dem Nachttisch neben Grossmutters zitterndem Kopf ihren Gedichtband. Ich setzte mich auf den frei gewordenen Stuhl, strich Grossmutter mehrmals durchs nasskalte Haar und verabschiedete mich von ihr, sagte ihr, wie sehr ich sie liebe, dass ich sie nie vergessen werde, und dass sie für mich eine ganz wunderbare Schriftstellerin sei.
Dann nahm ich ihren Gedichtband, las ihr ihre Gedichte vor und hielt ihre rechte Hand. Ich spürte, wie ihr Händedruck, der zunächst ganz weich gewesen war, ohne Kraft, auf einmal wieder fester wurde, und wie sich ihr Atem beruhigte, wie das Rasseln und Röcheln aufhörte. Ich war mir sicher, dass die Angst, die Grossmutter vor dem Sterben empfand, durch das Erklingen ihrer eigenen Zeilen und Strophen etwas gebannt werden konnte.
Dann schloss ich den Gedichtband, legte ihn auf den Nachttisch zurück. Ich wünschte Grossmutter eine gute Reise, küsste sie lang auf die Stirn. Eine Stunde später war sie tot. Sie starb am 19. Juni 2014. An ihrem Lieblingstag: Fronleichnam.
Rolf Hermann
1973 im Walliser Dorf Leuk geboren, lebt Rolf Hermann heute als freier Schriftsteller in Biel. Er schreibt Prosa, Lyrik, Hörspiele, Spoken Word und Theatertexte. Das Studium der Anglistik und Germanistik in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Nebst Solo-Lesungen tritt er mit der Mundart-Combo Die Gebirgspoeten und der Spoken-Rock-Truppe Trio Chäslädeli auf. Zuletzt erschienen ist sein Buch «Eine Kuh namens Manhattan» (Der gesunde Menschenversand). Der vorliegende Text ist eine Überarbeitung eines Textes im Band «Bibliophile – 33 Essays über die Faszination Buch».