Frauen heissen Damen, Huren oder Tillen. Ein Loddel oder Lude beschützt seine Tille und «verwaltet» ganz nebenbei auch ihr Geld. Kaum auf St. Pauli angekommen, wird Wolfgang «Wolli» Köhler im neuen Roman von Rocko Schamoni in den Slang des Milieus eingeführt. Hier ist alles darauf ausgelegt, Besucher abzumelken, bis sie ohne Samen und mit leeren Taschen dastehen. Schlosserlehre, Bergbau und Zirkus hat Wolli schon gesehen, als er im Hamburg der 60er wieder ganz unten aufschlägt – und bald zur KiezGrösse aufsteigt.
Eigentlich war Rocko Schamoni, der durch seine Telefonscherze im Studio Braun legendär wurde, erst gar nicht an Wolli interessiert. Der Hamburger recherchierte zu Maler Heino Jaeger, als ihm von «Wollie Indienfahrer» Bilder zum Kauf angeboten wurden. Beim Namen klingelte es. Schamoni kannte ihn als literarische Figur aus Hubert Fichtes Interviewbüchern, die in antibürgerlichen Kreisen Kult waren. Er kaufte die Werke unter einer Bedingung: Er wollte den Anbieter kennenlernen.
Wolli entpuppte sich als drolliger und hochspannender alter Mann. Und bald verdrängte seine Geschichte die Jaeger-Recherche. Nach dem Tod seiner Frau vereinsamte Wolli zusehends, Schamonis Besuche hielten an: «Jemand von der Sozialbehörde brachte ihm Einkäufe, ein Dealer lieferte Hasch, und ich kam für Gespräche.» Aus Recherche wurde Freundschaft. 2017 starb Wolli 85-jährig.
Schamoni begann, seine Geschichte auszubreiten, füllte die Lücken im Leben zwischen Rotlicht-Brutalität, Travestie-Shows und 60er-Kultur. So kriegt Wolli hautnah mit, wie sich eine Laienkapelle aus Liverpool von Auftritten im Hamburger Stripclub zu den weltberühmten Pilzköpfen mauserte. Rocko Schamoni aber wird zum nüchternen Erzähler. Dem ehemaligen Punk, Clubbetreiber, Musiker bei der fiktiven Filmband Fraktus, Spass-Politiker, Schmuckdesigner und Entertainer ist das Diffuse zwar lieb, doch bei Wolli halte er sich an die Fakten.
Verschwunden ist der schnodd- rige Ton, den man aus dem autobiografischen Roman «Dorfpunks» kennt. «Wenn ich über mich schreibe, kann ich Ironie und Humor einfliessen lassen. Schreibe ich über jemand anderen, finde ich es unseriös, ihm einen Humor in den Mund zu legen», sagt Schamoni. Schade, denn so kommt die Geschichte zwischen pikanten Sexpartys und Polizeirazzien bieder daher. Der Funke springt nicht; oft holpern Dialoge. Ganz im Gegensatz zum Leben des Puffbetreibers: «Wolli und seine Frau haben sich vom Tablett alles runtergenommen – auch die ganz harten Brocken», sagt Schamoni fast ehrfürchtig. So steht der Titel «Grosse Freiheit» nicht nur für eine Strasse auf St. Pauli, sondern ist Metapher für ein Leben. Zwei weitere Bücher zu Wolli sollen folgen. Hoffentlich blitzt dann wieder der Punk hinter dem Berichterstatter hervor.
Lesung
Do, 23.5., 20.00 Kaufleuten Zürich
Rocko Schamonis Kulturtipps
Soloperformance
Das Maddock Manifest von Benjamin Burger
«Ein Künstler radiert sich selbst systematisch aus der Welt und nimmt sich das Recht, vergessen zu werden. Für mich eines der wichtigsten Rechte, auch wenn es uns die Mediengiganten oft nicht mehr zugestehen.»
Sa, 11.5., 20.00 Rote Fabrik Zürich
Museumstour
Selbstmord, Geld und Olivenöl
«Jean-Marc Nia führt in einer subjektiven Führung für #letsmuseeum durchs Kunsthaus.»
So, 12.5., 15.30 Kunsthaus Zürich
Konzert
Sérgio Mendes
«Brasil-Ikone Sérgio Mendes, der viel mit Jorge Ben zusammengearbeitet hat, möchte ich sehen.»
So, 12.5., 20.00 Kaufleuten Zürich