Es ist kein Kaffeehaus mit Plüschsofas und Silberlöffel auf dem Wasserglas. Robert Simon hat einen simplen Ort gewählt, um seinen Lebenstraum zum Lebensraum zu machen: ein einfaches Eckcafé in unattraktiver, aber belebter Umgebung. Dank den Gästen vom nahen Karmelitermarkt in der Wiener Leopoldstadt – seien es Standbetreiber oder deren Kundschaft – kann Robert zufrieden konstatieren: «Das Geschäft lief nicht gerade prächtig, aber immerhin so, dass er sich nicht zu schämen brauchte.»
Ein Ort für Liebeskranke und Lebensmüde
Die Scham ist dennoch zu Gast im namenlos bleibenden Café, wenngleich in neblig entschärfter Weise. Etwa wenn ein rätselhaftes Wesen wie die Jascha auftaucht, die dem Robert die Sinne verdreht. Oder wenn ein explodierender Heizkessel Robert die Finger abreisst und er fortan auf Hilfe angewiesen ist. Denn früher war er einer, der anzupacken wusste, was ihm auch der Fleischermeister Berg bestätigte, für den er Kisten und tote Tiere zum Markt schleppte: «Für einen wie dich gibt es immer Arbeit.»
Berg gehört nun zu Roberts Gästen und trägt seinen Tagesumsatz ebenso herbei wie seine Sorgen und Schicksalsschläge. Denn für diese sperrt Robert sein Café jeden Tag auf, hört zu und nickt, bis sie ihn zu erdrücken drohen und er beschliesst, am Dienstag jeweils im nahen Augarten auf eine Bank zu sitzen und durchzuatmen. An allen anderen Tagen kümmert sich der geduldige Gastwirt um Betrunkene und Arbeitslose, um Liebeskranke und Lebensmüde, um die normalen kleinen Leute eben im Wien der 60er-Jahre, das noch dabei ist, die Kriegstrümmer wegzuräumen, und zugleich eine topmoderne U-Bahn baut.
Robert Seethaler (* 1966) hat mit Robert Simon ein nicht nur namentliches Alter Ego erfunden, mit dem er in ein Wien zurückkehrt, dessen Spuren er in jüngster Kindheit wohl selbst noch erlebt hat. Ein Wien des unverdauten Traumas, das aber nach Aufbruch lechzt, nach Zukunft. Oder wie Robert Simons Vermieterin einmal sagt: «Man sollte sich immer ein bisschen mehr Hoffnung machen als Sorgen.» Ein typischer Seethaler-Satz: lakonisch, aber treffend, melancholisch und doch augenzwinkernd.
Ein Satz, der zu vielen seiner bisherigen Figuren passt: von der Biene und dem Kurt über den jungen Trafikanten Franzl bis zum Bergbahnarbeiter Andreas. Allesamt geprüfte und einsame Wesen, die sich aber einzurichten versuchen in ihrem kleinen Leben. Nun ist es Robert Simon mit seinem riesengrossen Herz, der kaum an sich selbst denkt. Viel eher an das Wohlergehen der fleissigen Mila, die dem Fingeramputierten das Geschäft schmeisst, an die müden Marktleute und seinen traurigen Vermieter Kostja Vavrovsky, den allzu starken René und die verzweifelte Heide.
Wien wächst und ist doch ein unsicherer Boden
Denn Wien ist zwar am Erwachen und Wachsen und dennoch ein unsicherer Boden für all die «spinnerten» Leute, wie auch Rose Gebhartl beobachtet, die jeden Tag im Café ohne Namen sitzt. Nicht der private Irrsinn einzelner Leute sei das Problem, sondern die Zeit im Allgemeinen. Eine fast schon existenzialistische Beisl-Weisheit, die ein anderer Stammgast mit Altwiener Schmäh weiterdenkt: «Am besten, man sucht sich ein schattiges Platzerl im Leben und hält still.»
Buch
Robert Seethaler
Das Café ohne Namen
288 Seiten (Claassen 2023)