Er erinnert äusserlich an einen verblühten Dandy. Schlank, kühne Haartolle im Gesicht, ein munteres Schnurrbärtchen tänzelt unter der Nase – guten Tag, Mister Richard Tuttle, schön, dass Ihre Werke erneut in der Schweiz angekommen sind.
Das Kunstmuseum Winterthur stellt den Künstler nun in einer neuen Ausstellung vor, die unter dem griechischen Begriff «kallirroos schön-fliessend» steht. Tuttle hat das Wort als Ausgangspunkt für seine Arbeiten gewählt, weil ihm der Entstehungsprozess seiner Werke wichtig ist.
Die Werkbezeichnungen sind verzwickt und lassen Raum für alle möglichen Interpretationen: Unter «Rose Weight» zum Beispiel kann jeder verstehen, was er will. Einzig die Angaben über die Technik geben etwas Aufschluss: «Wasserfarben auf Papier, zwei Blätter im vergoldeten Rahmen». Die feine Ironie ist spürbar: Der goldene Rahmen soll auf Bürgerlichkeit und Wohlanständigkeit oder sogar Kitsch hinweisen, während die farbliche Abstraktion wild anarchisch ist und sich jeglicher Gegenständlichkeit entzieht. Solche Gedanken erübrigen sich dagegen bei seinem Werk «Celebration #3»; hier weiss höchstens der Künstler, welche Feier angesagt war, als das Werk vor 13 Jahren entstand. Die Rätselhaftigkeit ist beabsichtigt. Einem Kunstkritiker der «Financial Times» sagte er: «Ich bin ein Problem für jeden Interviewer» – und in der Folge Dinge wie: «Ich suche etwas, das in meinem Kopf ist.» Oder: «Ich erfinde eine Art eigene Sprache.» Allesamt Bekenntnisse, die wohl jeder Künstler abgeben könnte.
Experimentierfreude
Die Winterthurer Schau schlägt einen Bogen seiner Werke aus den 1970er-Jahren bis heute: Älter sind etwa die legendären Paper Octagonals, minimalistische Objekte, die er in einer raffinierten Farb- und Formgebung schuf. Dazu kommen neue, eigens für diese Ausstellung geschaffene Arbeiten.
Am Anfang stand wie bei so manchen die Ausstellung «When Attitudes Become Form» des Kurators Harald Szeemann 1969 in der Kunsthalle Bern. Richard Tuttle war damals als 27-jähriger Künstler an diesem legendären Anlass vertreten, erstmals in Europa überhaupt. Seither experimentiert der Mann in allen möglichen künstlerischen Disziplinen – Skulpturen, Malerei, Zeichnen, Drucken, Installationen und sogar Möbel schreinern. Vor allem aber interessieren ihn Textilien; er druckte in den 1970er-Jahren Hemden und Unterwäsche, genauer: groteske Übergrössen, die keiner und keine je tragen könnte. Anderes wiederum erinnert an schicke Designerstücke, die manchem Model wohl anstehen.
Unbeirrt auf dem Weg
Stoffe faszinieren Tuttle solchermassen, dass ihm die Londoner Tate Modern vor einem Jahr die grandiose Turbinenhalle anbot, um eine textile Installation einzurichten, die warme Farben in die Kühle des gigantischen Industriebaus brachte – Wohlfühlkunst vom Besten auf den ersten Blick. Parallel dazu ergründete eine zweite Ausstellung in der Whitechapel Gallery Tuttles Techniken und Arbeitsmethoden mit Textilien – auch dort alles im Fluss also. «Er ist ein eigenständiger Kauz, der sich dem US-amerikanischen Mainstream stets wiedersetzte», schrieb der «Daily Telegraph» über dies Ausstellung. Er wird in einer Linie gesehen mit zeitgenössischen Gestaltern wie Donald Judd, Richard Serra und Eva Hesse.
Tatsächlich gehört Tuttle zu jenen Künstlern, die Kritiker mögen, weil sie über sie herziehen oder sie lieben können, je nach Lust und Laune. In jedem Fall lässt sich trefflich über Tuttle streiten. So kritisierte die «New York Times» eine seiner grossen Ausstellungen unter dem Aspekt der Minimal Art, einer Etikette, die ihm immer wieder verpasst worden ist: «In Herrn Tuttles Werk ist wenig zu erkennen, tatsächlich sehr wenig … man möchte fast sagen, eigentlich war wenig noch nie weniger.» Manch einer hätte nach einer solchen Kritik die Segel gestrichen, nicht so Tuttle mit seiner unbändigen Neugier, der unbeirrt seinen Weg geht und immer wieder Neues ausprobiert, wo immer er auf Material stösst. Seine Werke sind heute in jeder ambitiösen Sammlung vertreten.
Arp und Tuttle
Erfreulich, dass er nun im Kunstmuseum Winterthur zu sehen sein wird. Die Schau stellt Tuttle in Verbindung mit dem Elsässer Dadaisten Hans Arp (1886–1966) aus, einem Künstler, der ebenfalls nie an einem Ziel angekommen war. Das Museum besitzt eine breite Auswahl seiner Werke, die es nun als Gegenposition zu Richard Tuttle präsentiert. Die Arp-Ausstellung ist in drei Kapitel gegliedert und beginnt mit seinen Bildreliefs Ende der 1920er-Jahre. Darauf folgen seine späteren abstrakten, sockellosen Skulpturen, «festgehaltene Momente aus stetigem Fliessen und Werden», wie es im Ausstellungstext heisst. Das wiederum erinnert an Tuttles «kallirroos».
Richard Tuttle: kallirroos schön-fliessend
Sa, 27.2.–Fr, 24.6. Kunstmuseum Winterthur