kulturtipp: Maestro, Sie dirigieren diesen Sommer in Salzburg Verdis «Macbeth», eine Oper um Machtgier. Hat Dirigieren mit Macht zu tun?
Riccardo Muti: Nein. Das Podium ist kein Ort der Macht, sondern eine Insel der Einsamkeit. Die Figur des diktatorischen Dirigenten gehört glücklicherweise der Vergangenheit an. Aber klar: Ein Dirigent muss sehr genaue Ideen haben, die er erst dem Orchester, dann dem Publikum weitergibt. Und folglich kann der Dirigent nicht die Musiker fragen, was sie so denken. Heute, in einem demokratischen Staat, kann diese Art, Ideen durchzusetzen, bereits als diktatorisch angesehen werden. Aber da sitzen 100 Musikerinnen und Musiker, und wenn einer als Dirigent nicht stark ist, entsteht ein Chaos.
Michael Haefliger, der Intendant des Lucerne Festival, sagt, al-
te Orchesterstrukturen sollten überdacht werden: Aus finanziellen und ideellen Gründen. Er investiert viel Geld, nur um fürs Festival ein Orchester zu bilden. Der Weg der Zukunft?
Die finanzielle Situation ermöglicht es Luzern, grosse Musiker aus der ganzen Welt zusammenzubringen. Aber ich glaube nicht, dass so etwas in Napoli, Palermo oder Kiew funktioniert. Grosse Orchester sind nun mal das Resultat von vielen Jahren Arbeit mit grossen Dirigenten. Da sind ganz unterschiedliche Klangkörper entstanden. Da sitzen Musiker, die quasi zusammen geboren wurden, zusammen gelebt haben. Ein Klarinettist in Philadelphia sagte mir einmal: «Mit meinem Kollegen verbrachte ich mehr Zeit meines Lebens als mit meiner Frau.» Die Ad-hoc-Orchester sind ein isoliertes Phänomen. Auch etwas elitär, nicht?
Schon, aber die Traditionsorchester haben Probleme. Das Orchester in Philadelphia musste Konkurs anmelden. Orchester sind ein Luxus geworden.
Nein, Kultur ist nie ein Luxus! Das Orchester von Philadelphia ist eines der besten der Welt, ein Eigentum der Stadt, das ist kein Luxus, das ist eine Notwendigkeit. Es ist ein kulturelles, soziales und auch moralisches Bedürfnis, die Verantwortung für ein Orchester zu übernehmen. Luxus ist etwas, das nicht nötig ist, etwas, das man reduzieren könnte. Ein Orchester zu haben, ist wie das tägliche Brot, wie das Wasser – ein Grundnahrungsmittel. Ein Land ohne Orchester, ohne Musik, ohne Theater, ohne Literatur ist ein barbarisches Land. Vor allem hier in Europa! Die Geschichte Europas ist eine Geschichte der Kultur, nicht der Kriege.
Sie feierten Ende Juli Ihren 70. Schauen Sie heute eher nach vorne oder zurück?
Nach vorne. Wer wandert, muss das tun, sonst schlägt er sich die Nase an einer Mauer ein. Aber mein Blick nach vorne ist ein zyklischer: Es ist ein Weg, der an die Ursprünge erinnert.
Besteht die Gefahr, dass Sie beim Blick in die Vergangenheit sentimental werden?
Ich ehre tiefe Gefühle, aber ich mag das Gefühlsduselige nicht. Ein grosser Schauspieler oder Musiker muss Emotionen erschaffen und sie auch fühlen. Aber er muss das Publikum zum Weinen bringen, nicht sich selber. Er muss kontrolliert bleiben. Die Sentimentalität ist die Degeneration eines wahren Gefühls. Das ist ein Gefühl ohne Kontrolle.
Hat sich nicht auch das Publikum stark verändert?
Das Publikum neigt dazu, mehr auf die Effekte als auf die Substanz einer Sache zu achten. Schuld daran ist das Fernsehen: Aufs Optische wird stärker reagiert als aufs Akustische. Und so herrscht heute auf vielen Bühnen ein theatralisches Gebaren: Solisten sind zu sehr darauf aus, sich zu präsentieren. Sie wissen, dass das Publikum nicht an das glaubt, was es hört. An einigen Orten existiert aber noch ein geschultes Publikum, das weiss, was es will.
Shakespeare lässt Richard III. sagen: «Die Hände brauchen wir und nicht die Zungen!» Stimmt das denn auch für den Dirigenten Riccardo Muti?
Die Arme des Dirigenten sind die Verlängerung seines Denkens. Durch sie geht sein Geist aufs Orchester über. Doch das ist erst der halbe Weg. Heute meint man, die Athletik eines Dirigenten sei schon alles. Ein guter Dirigent muss jedoch ein kompletter Musiker sein: Er muss die Instrumente kennen, die Kompositionstechnik. Das verlangt Jahre des Studiums. Viele heutige Dirigenten haben bloss flüchtige Kenntnis der Musik. Trotz allem: Wie man einen bestimmten Ton zum Leben erweckt, kann man nicht lernen. Emotionen sind das Resultat einer vertieften Kenntnis der Partitur, auch einer Lebenserfahrung. Es braucht die Sprache, um gewisse Intentionen auszudrücken. Aber Dirigenten, die viel reden, sagen viel Unnützes.
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Auswahl aus der 12-teiligen Edition
zu Mutis 70. Geburtstag (EMI 2011):
Verdi: Opernchöre, Ouvertüren
und Ballett-Musik (2 CDs).
Verdi: Requiem, quattro pezzi sacri
(2 CDs).
Berlioz: Symphonie
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