Wer an einem sonnigen Tag vor dem Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich steht, sieht mit etwas Glück gleichzeitig in die Vergangenheit und in die Zukunft. Dann spiegeln sich auf den hohen Glaspanelen des Chipperfield-Baus nämlich die verschwommenen Umrisse eines anderen Gebäudes: Karl Mosers Entwurf von 1910, der Ursprung des Kunsthauses Zürich.
Die Zukunft des Hauses, das Gebäude des britischen Architekten David Chipperfield, steht nun schon seit einiger Zeit vollendet gegenüber von Mosers Bau. Zu wuchtig empfanden viele den voluminösen Kubus anfänglich. Doch man hat sich an seine stille Wucht gewöhnt. Schliesslich setzte Chipperfield alles daran, Alt mit Neu zu verbinden: Die Farbe der Kalkstein-Fassade ähnelt jener des Ursprungshauses; die Lamellenstruktur zitiert Mosers Halbsäulen. Aktuell ist der Neubau nun zum ersten Mal für ein breites Publikum geöffnet. Also nichts wie rein!
Glockenhall wie in der Kirche
Einst wird man den Neubau durch das Messingtor an der Front betreten können, fürs Erste bietet zurzeit ein Tunnel vom Haupthaus her Zugang. Hier arbeitete Architekt Chipperfield mit dem Marmor aus dem Moser-Bau, um die beiden Trakte visuell zu verbinden. Den ganzen Weg unter dem Heimplatz hindurch hat man den hellen Stein unter den Füssen – bis in die grosse Halle. Das Herz des Neubaus. Chipperfield hat diese Art Atrium über die ganze Länge des Kubus angelegt und über alle drei Etagen geöffnet. Ein wuchtiger Glockenschlag füllt den Raum an diesem Morgen: William Forsythes Installation «The sense of things» lädt Besucher über die nächsten Wochen ein, den noch mehrheitlich leeren Bau zu erkunden. Unweigerlich wähnt man sich beim Hall der Glocken in einer Kirche. Irgendwie passend: Karl Moser hatte bei seinem Entwurf des ersten Kunsthausgebäudes einen Tempel für die Kunst vor Augen. Nun erinnern die hohen Fensterpartien des Erweiterungsbaus tatsächlich an eine Kathedrale.
Bestechende Formensprache
Zeit, in die Höhe zu steigen. Eine grosszügige Treppe bringt die Besucher an der Nordseite des Atriums in die oberen Stockwerke. Alexander Calders übergrosses Mobile «Cinq blancs, un rouge» hängt bereits auf der Höhe einer Zwischenetage. Es scheint zum Greifen nah. Im Treppenbereich gesellen sich Sichtbeton, Lamellen-Strukturen, Messingtüren und -handläufe zueinander. «Sammlung Bührle», «Ballroom» verkündet die wunderbar skulpturale Signaletik. Auch hier stellt Chipperfield Verbindungen her: Türen und Wandverkleidungen zitieren im Innern das goldene Eingangstor und die Fassade. Die Formensprache und elegante Nüchternheit erinnern an die Nachkriegsmoderne des Bührle-Saals der Gebrüder Pfister von 1958.
Die Ausstellungssäle wiederum sind fest in der Gegenwart verankert. Deren Böden aus breiten Eichendielen verbreiten ein Flair moderner skandinavischer Architektur. Doch auch hier stechen vor allem die raumhohen Fensterpartien ins Auge. Je nach Himmelsrichtung schaffen sie unterschiedliche Lichtnuancen – und geben gleichzeitig den Blick auf das Stadtleben rund um den Heimplatz frei. Immer wieder aber zieht es einen zurück ins Atrium. Und auf die verschiedenen Brücken, welche die zentrale Halle auf allen Stockwerken überspannen. Aus stets neuen Winkeln lässt sich dieser mächtige Raum so erleben. Und lässt einen in Gedanken versinken. Bis einen ein erneuter Glockenschlag aus diesen reisst. Der Tempel ist bereit, die Kunst kann einziehen.
William Forsythe – The sense of things
Bis Mo, 24.5. Kunsthaus Zürich
Öffentlich zugänglich
Bis Pfingsten ist der Chipperfield-Bau ein erstes Mal für das Kunsthaus-Publikum geöffnet. Während dieser Zeit lädt William Forsythe mit seiner ortsspezifischen Klanginstallation «The sense of things» zur akustischen Erkundung des neuen Gebäudes. Über das Pfingstwochenende ist die Besichtigung kostenlos. Im Oktober 2021 wird der Erweiterungsbau schliesslich offiziell mit den Sammlungen Bührle, Merzbacher und Hubert Looser eröffnet.