Die bleiernen Schneewolken hängen tief über dem Toggenburg. Lichtensteig – das schmucke Städtchen hoch über der Thur – zeigt sich unwirtlich. Auf den Strassen sind kaum Leute anzutreffen.
Es ist kurz nach Mittag und eisig kalt, die Läden an der Hauptgasse haben geschlossen: die Smoker-Lounge «Samaná» ebenso wie der Coiffeursalon oder die «Fusspflege im Zentrum ». Zuweilen werden nur Schaufenster genutzt, einige Läden stehen leer. Einzig im Volg brennt Licht.
Man fragt sich, was es auf sich hat mit jener «Wiederbelebung », für die Lichtensteig kürzlich mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet worden ist. Für Klärung sorgt Mathias Müller. Der 40-jährige Stadtpräsident lädt zum Rundgang und öffnet als erstes die Tür zum «Rathaus für Kultur». Durchs breite Treppenhaus führt er in einen Saal im ersten Obergeschoss. «Dies war einst mein Büro», sagt er und ist schon mitten im Thema.
Kurz nach seinem Amtsantritt 2013 sollte das Rathaus saniert werden. «Allein der Einbau eines Lifts hätte aber eine Million Franken gekostet und zudem wunderbare Räume wie die alte Beizenküche oder den Gewölbekeller verdrängt», sagt Müller.
«Die Stadt überliess das Rathaus der Kultur»
Die Beiz heisst heute «Lokal», im Projektraum finden Konzerte statt und im Keller Feste. «Weil gleich nebenan die Grossbank UBS verschwand, zogen wir mit der Stadtverwaltung um und überliessen das Rathaus der Kultur. »
In der Stimme des Mitte-Politikers schwingt Stolz mit, denn dieser Häusertausch ist einer der Gründe für den Wakkerpreis. Und es gibt unzählige weitere: Das Engagement von Kunstschaffenden wie Silke kleine Kalvelage etwa, die neben dem Stadtpräsidenten steht.
Die Künstlerin ist 2020 aus Weimar ins Toggenburg gereist – für einen Atelieraufenthalt in der Dogo Residenz für Neue Kunst im Rathaus. «Und ich bin geblieben », sagt die 37-Jährige und pos- tuliert sich damit als lebendiger Beweis dafür, dass Lichtensteigs Belebung funktioniert. Ihr Atelier hat sie im Rathaus, und sie engagiert sich auch in der Genossenschaft Stadtufer. «Wir sanie- ren eine alte Textilfabrik und ermöglichen gemeinschaftliches wohnen, leben und arbeiten», erzählt sie auf dem Weg hinab zur Thur.
Dort steht die einstige «FeinElast» leer. «Einen Teil der 8000 Quadratmeter haben wir an Künstlerinnen vermietet. Die Junge Bühne Toggenburg richtet sich hier ein, der erfolgreiche Schweizer Musikproduzent Claudio Cueni hat seinen Sitz von Los Angeles hierher verlegt.»
Den Weg zu dieser Umnutzung habe die Gemeinde geebnet, indem sie mit der Besitzerfamilie Schneider verhandelt hat, erklärt Mathias Müller. «Die nötige Energie und das Engagement kommen aber von den Kulturschaffenden selbst.» Diese «Aufbruchstimmung », wie es kleine Kalvelage nennt, gründet ironischerweise in einer Krise. «Als ab den 70er-Jahren die Textilindustrie verschwand und mithin Gewerbe und Dienstleister, begannen vor allem Kulturschaffende, die leeren Gebäude zu nutzen», sagt Stadtpräsident Müller. «Es entstanden erfolgreiche Institutionen wie das Chössi Theater oder die Jazztage.»
Leer stehende Räume und engagierte Menschen
Der Strukturwandel aber wurde zur Abwärtsspirale: Von einst 2200 Einwohnern blieben noch 1800. Als 2008 ein leer stehendes Lokal zum Erotiksalon werden sollte, spitzte sich die Lage in der Bevölkerung zu. Die Gemeinde lud daraufhin zu einem Beteiligungsprozess, aus dem zwölf konkrete Projekte resultierten. Vereine bauten die einstige Kalberhalle zum Eventraum um.
Die Gruppe «blühendes Lichtensteig» verhalf dem Städtchen zum Label «Grünstadt», Studentinnen und Studenten kehrten aus Luzern, Bern und Basel zurück und nahmen sich des Rathauses an. «Es waren viele kleine Geschichten, die zur Belebung der ganzen Stadt führten », sagt Mathias Müller. «Unser Potenzial waren leer stehende Räume, vor allem aber auch engagierte Menschen.»
Den Wakkerpreis sehen der Politiker und die Künstlerin als Anerkennung für dieses Engagement, die den Projekten zu- dem Glaubwürdigkeit verleihe. Der Preis sorgt überdies für Aufmerksamkeit: Es melden sich interessierte Gemeinden aus der ganzen Schweiz, Hochschulen aus dem In- und Ausland. «Letztlich gibt uns diese Auszeichnung Mut, um weiterzumachen », sagt Mathias Müller. An Projekten mangelt es nicht.
Silke kleine Kalvelage stellt für Ende April einen Stadtrundgang mit Hör- und Kunststationen in Aussicht. Müller erwähnt das neue Chössi Theater beim Bahnhof und die Food-Manufakturen, die leere Ladenlokale an der Hauptgasse beziehen werden. Es ist später Nachmittag, als eine Gruppe Teenager auf den Bus nach Wattwil wartet. Sie stürmen die dortige «Jazz-Box» – eine alte Telefonzelle, in der Aufnahmen der örtlichen Jazztage zu hören sind. Es stimmt eben doch: Lichtensteig lebt wieder.
Informationen und Veranstaltungen
www.wakkerpreis2023.ch
www.rathausfuerkultur.ch
www.stadtufer.ch
www.lichtensteig.ch
Das kreative Thurstädtchen
Lichtensteig liegt unmittelbar neben Wattwil im mittleren Toggenburg. 1228 erstmals urkundlich erwähnt, wuchs der Flecken im Mittelalter zum wichtigen Markt- und Gerichtsort und erhielt 1400 das Stadtrecht. Im 19. Jahrhundert siedelten sich Fabriken der Textilindustrie an. Mit deren Niedergang ab den 1970ern verlor Lichtensteig an Bedeutung – und Einwohnern. Lebten in Blütezeiten über 2200 Menschen im Thurstädtchen, sank diese Zahl auf 1800. Heute leben wieder 1960 Leute in Lichtensteig. Die Wiederbelebungsprojekte sollen die Stadt als Standort der Kreativwirtschaft und von Manufakturen im Foodbereich festigen.
Der Wakkerpreis
Seit 1972 zeichnet der Schweizer Heimatschutz jährlich eine Gemeinde für besondere Leistungen im Bereich Ortsbildschutz oder Siedlungsentwicklung aus. Dieser Wakkerpreis ist nach seinem Stifter, dem Genfer Geschäftsmann Henri-Louis Wakker, benannt und mit 20 000 Franken dotiert. Weit wichtiger als das Preisgeld ist der Anerkennungswert, von dem ausgezeichnete Gemeinden nachhaltig profitieren.
www.heimatschutz.ch/wakkerpreis