Eine andere Rolle als die des Herrenhauses würde man der Chesa Poult gar nicht abnehmen. In kräftigem Ocker und selbstbewusst sitzt der Bau am oberen Ende eines abfallenden Platzes und blickt aus typischen Engadiner Trichterfenstern über Zuoz. Dieses Haus will betrachtet werden. Dieses Haus will gezeichnet werden.
Man zeichnet meist draussen
Priska Sancini tut ihm den Gefallen. An diesem Septembermorgen hat sie erste Linien auf ihrem Zeichenblock gezogen: eine Aussenmauer, vier Fenster mit Läden, ein Schornstein. Die Chesa Poult ist ihr gleich ins Auge gestochen: «Ich habe mich gestern beim Abendspaziergang schon in das Haus verliebt – ich stehe auf bunt.» Immer wieder blickt Sancini kurz auf, fügt dann ein weiteres Detail zur Zeichnung hinzu. Bereits erkennt man den geschwungenen Giebel des kleinen, barocken Turms auf dem Dach des Mittelflügels.
Zehn Personen zeichnen auf dem kleinen Platz in Zuoz. Urban Sketching nennt sich das: Man zeichnet meist draussen, als Sujets dienen Szenerien und Momentaufnahmen der unmittelbaren Umgebung. Sancini und die anderen sind Teilnehmer des zweiten Swiss Urban Sketchers Symposiums. Drei Tage lang werden sie im Engadin skizzieren, sich austauschen und in Workshops neue Techniken lernen.
Etwa bei Boris Zatko. Der Basler Autor und Illustrator gibt an diesem Morgen Tipps zum Zeichnen von Gebäudelandschaften und zum Aquarellieren mit auf den Weg. «Wir arbeiten vom Grossen ins Kleine», erklärt er zunächst. Und spricht dann über Flucht- und Referenzpunkte, über das Ausbauen der Skizze Linie für Linie. «Nehmt den Stift, haltet ihn eine Armlänge vor euch hin und schliesst ein Auge – so könnt ihr das ganze Gebäude vermessen.»
«Zeichnen ist wie Yoga für den Kopf»
Zatko macht es gleich selber vor, streckt den Arm mit dem Bleistift mal senkrecht, mal waagrecht vor sich aus und setzt erste Striche auf seinem Zeichenblock. «Versucht mit euren Linien so locker wie möglich zu sein.» Später sitzen die Teilnehmer des Workshops auf ihren Camping-Hockern oder auf dem Brunnenrand. Immer wieder schnellen Arme in die Höhe, werden Augen zugekniffen. Priska Sancini skizziert gerade die kleine Mauer vor dem Haus. Eine Strassenlaterne links des Gebäudes gibt ihrer Zeichnung bereits etwas räumliche Tiefe.
Sancini arbeitet heute mit einem speziellen Füller und wasserfester Tinte. Ist der Strich erst einmal auf dem Blatt, lässt er sich nicht mehr wegradieren. Aber genau das reizt sie: «Ich arbeite dann mit einer gewissen Bestimmtheit.» Die Thurgauerin begann vor drei Jahren mit Urban Sketching. «Vorher war ich ein Foto-Junkie», sagt sie lachend. Sie sei immer mit der Digitalkamera rumgerannt und habe Hunderte von Fotos geschossen, die sie danach nicht mehr anschaute. Heute besitzt sie sogar ein Skizzenbuch extra für Wanderungen. Wenn man zeichne, sei man viel stärker im Moment drin, sagt sie. «Das Zeichnen gibt mir eine gewisse Ruhe – es ist wie Yoga für den Kopf.»
Urban Sketching entstand 2007 im US-amerikanischen Seattle. Der dort lebende spanische Journalist und Illustrator Gabriel Campanario eröffnete zunächst eine Gruppe auf der Online-Plattform «Flickr» und später den Blog urbansketchers.org. Seine Idee einer weltweiten, digital vernetzten Gemeinschaft von klassischen Zeichnern kam an.
Die Häuser strahlen in Erdtönen
Weit über 270 000 Skizzen und Aquarelle findet man mittlerweile auf Campanarios Flickr-Seite – Strassenzüge in Barcelona, Pendlerinnen in der New Yorker U-Bahn, ein Schaufenster im Zürcher Kreis 4. «Wir zeichnen vor Ort» heisst einer von acht Punkten im Manifest der Urban Sketchers. Oder: «Wir zeigen die Welt, Zeichnung für Zeichnung». In 26 Sprachen kann man dies mittlerweile nachlesen.
In der Schweiz gehört Boris Zatko zu den Pionieren der Bewegung. Nach einigen seiner Ausführungen hat sich seine Gruppe in Zuoz ans Aquarellieren gemacht. Bereits ist die Hälfte des Morgens um. Jetzt geht Zatko von Teilnehmer zu Teilnehmer und schaut sich deren Fortschritte an. Überall drehen sich Pinsel abwechselnd in den Farbnäpfen und auf den Mischflächen kleiner Malkästen. Auf den Blättern nehmen Himmel zarte Blaus an, Häuser strahlen mal mehr, mal weniger satt in Erdtönen. In verschieden grossen Konfitüregläsern verfärbt sich derweil das Mischwasser – orange, violette, grün-grau. «Du musst sehr nass arbeiten», sagt Boris Zatko zu jemandem, «wenn du die Farbe zu trocken anrührst, wird sie zu fleckig.» Und Priska Sancini rät er, die Trichterfenster der Chesa Poult noch mit Schatten zu versehen. «Damit schaffst du Tiefe und Details.» Sancini hat sich fürs Malen mit den Wasserfarben auf einen Kanaldeckel gesetzt. Mit dem getrockneten Pinsel saugt sie überzähliges Blau vom Himmel auf ihrem Zeichenblock. Mit Grün deutet sie in einer Ecke noch ein Blumenbeet an, dann setzt sie ihre Unterschrift unter das Aquarell. Fertig.
Bis zum Mittag bleibt noch ein wenig Zeit. Genug, um eine zweite Zeichnung zu beginnen. Die Gasse, die links von der Chesa Poult den Hügel hinaufführt, findet Priska Sancini spannend. Sie stellt sich hin,
ihren Zeichenblock hochkant in der Linken, den Füller in der Rechten. Zwei, drei Mal hebt sie den Kopf, blickt in die verschachtelten historischen Häuser von Zuoz. Für einen Moment schwebt ihr Füller noch über dem leeren Blatt Papier. Und zieht dann bestimmt eine erste lange, senkrechte Linie.
Urban Sketchers
Mehr Informationen unter: switzerland.urbansketchers.org
Ausstellung mit Zeichnungen
Während des Lockdowns wurde auch der Bewegungsradius der Urban Sketchers für einige Zeit kleiner. Mit der Ausstellung «Urban Sketchers@home» zeigen Mitglieder des Schweizer Zeichner-Netzwerkes in der Galerie des Gluri Suter Huuses im aargauischen Wettingen Arbeiten, welche die neue Realität während Corona abbilden: Szenen aus dem Home-Office und vom Balkon, landschaftliche Weitsichten von Spaziergängen, Schlange stehen und Masken tragen.
Ausstellung
Urban Sketchers@home
So, 27.9.–So, 18.10.
Öffnungszeiten: Mi–Sa, 15.00–18.00 So, 11.00–17.00 Gluri Suter Huus Wettingen AG
www.glurisuterhuus.ch
Sketch-Crawl: Zeichnen Sie mit!
Sa, 10.10., 14.00 Treffpunkt: Gluri Suter Huus Wettingen AG
Anmeldung: 056 222 75 74 oder hist.museum@baden.ch