Das Bild wechselt seine Farbe, wenn Olga Titus mit den Fingern darüberstreicht. Das Gemälde aus beidseitig bedruckten Pailletten zeigt eine expressive Struktur in Blau- und Grüntönen, die an dichten Dschungel erinnert. Doch wo Titus die feinen Plättchen mit ihrer Handbewegung umdrehte, schimmert jetzt eine Furche dunklen Rots – als verberge sich unter dem Bild noch ein zweites.
Ateliers als Spiegel des Innenlebens
Titus’ Bild liegt auf einem hellen Perserteppich in ihrem Atelier, einem Raum im Erdgeschoss eines Hofhauses unweit des Bahnhofs Winterthur. Rings um den zweistöckigen Backsteinbau thronen moderne Häuser. Dennoch dringt an diesem Novembernachmittag etwas Sonnenlicht in den Innenhof. Einst wohl ein Handwerksbetrieb, arbeiten heute Olga Titus, die Künstlerin Mia Diener und der Fotograf Fabian Stamm hier. Die drei gehören zu einer Reihe Kunstschaffender, die im Rahmen von «Reinschauen» der Künstlergruppe Winterthur ihre Studios öffnen.
Ateliers faszinieren. Generationen von Künstlerinnen und Künstlern verewigten ihre Arbeitsräume in Atelierbildern – als Reflexion ihres Schaffens, als Spiegel des Innenlebens. Für Nicht-Künstler ist das Atelier der Raum, in dem Unergründliches geschieht: Allerhand wird hier in magischen Abläufen zu Kunst.
«Ich denke, die Leute finden es spannend, in diese Welt einzutauchen», sagt Mia Diener. Zudem entstünden hier andere Gespräche als an einer Vernissage. Dem pflichtet Fabian Stamm bei: «An einer Ausstellung wird über mein fertiges Produkt gesprochen. Im Atelier sehen die Menschen unsere Werkzeuge, und man kann über Prozesse sprechen.» Den Menschen einen Blick hinter die Kulissen zu gewähren, sei auch für sie als Künstlerin gut, fügt Olga Titus an. «Sieht jemand unseren Kosmos, macht vielleicht auch noch mehr Sinn, was wir tun.»
Drei Künstler-Welten in einem Hofhaus
Wer das Hofhaus betritt, taucht in drei unterschiedliche Künstler-Welten ein. Olga Titus’ Atelier erinnert einen sogleich an ihr Schaffen. Auf zwei Planschränken wuchern Papierblumen, Vasen, Figürchen und Masken zu einer Art Wimmel-Installation, die etwa Titus’ schrill-bunte Videocollagen ins Gedächtnis rufen. Mehrere Pailletten-Bilder sind an einen Radiator gelehnt, auf dem wiederum zwei Rollschuhe mit blauen Rädern liegen. Neben der Tür steht ein geblümter Salonsessel. Vom weiss gestrichenen Deckenträger baumeln ein Kronleuchter und eine Schaukel. Ihr Atelier bedeute ihr viel, sagt Titus: «Es ist ein wenig wie ein zweites Zuhause.» Man glaubt es ihr sofort.
Nüchterner ist der Raum im Obergeschoss, den man über eine Metalltreppe betritt. Fabian Stamm hat seine Fototasche auf einem schlichten, weissen Ledersofa deponiert. In einem Alu-Regal liegen Ausrüstungsgegenstände und eine alte Fotokamera. Der Fotograf ist viel unterwegs und sagt: «Es ist ein schöner Moment, ins Atelier zurückzukommen.» Oft verteilt er hier Dutzende von Ausdrucken auf den dunklen Holzdielen. «Sobald du mit Bildserien arbeitest, entsteht eine Abhängigkeit vom einen zum anderen Foto. Lege ich die Bilder aus, sehe ich, wo es die Möglichkeit für eine Serie gibt.» Ein Resultat dieser Arbeitsweise steht auf einem Korpus: Vier Abzüge aus dem fotografischen Essay «Tehran Paradise». Stamm dokumentierte unter anderem Fassadenmalereien in der iranischen Hauptstadt.
In Mia Dieners Atelier versperren weisse Rollos die Sicht auf den Innenhof. «Hier allein zu sein, ist etwas vom Schönsten», sagt sie. Sie könne mit ihren Ideen in die eigene Welt abtauchen. Auf einem hochbeinigen Tisch liegt, woran sie gerade arbeitet: ein grossformatiger Monotypie-Druck. Schwarze Linien erinnern an eine astronomische Karte. Wie das fertige Bild einmal aussehen könnte, lässt das mehrteilige Werk «Nexus» an der Wand gegenüber erahnen: Bunte Drucke in unterschiedlichen Formaten zeigen rätselhaft-faszinierende Grafiken. Diener arbeitet mit verschiedenen Medien. In einer Kiste wird man alte Telefone entdecken, die sie schon für Hörspiel-Installationen benutzte. Auf einem Pult beim Fenster liegen amorphe Schnipsel, welche die Künstlerin aus Kartenmaterial ausgeschnitten hat. Zusammengerollt stehen Leinenkarten in einer Ecke – sie warten noch auf eine von Mia Dieners zündenden Ideen.
Rafael Grassis Arbeitsraum liegt gut 15 Gehminuten vom Bahnhof im Dachgeschoss des Fotomuseums Winterthur. Farbsprengsel zieren den Holzboden seines Ateliers, doch nach Farbe riecht es hier nicht. Zwei seiner surreal anmutenden Gemälde stehen auf Staffeleien, weitere hat er an die Wände gehängt. Auch er wird hier fürs «Reinschauen» die Türen öffnen.
Ein Heer von Pinseln und Farbtuben
Ein lautes Klicken ertönt, Grassi hat seine Kaffeemaschine eingeschaltet. Sein Ritual. Das Unding, das den Kaffee produziert, erhielt er einst von einem Restaurant geschenkt. «Das Atelier ist ein Teil meines Zuhauses», sagt er. «Es ist ein Ort der Freiheit. Ich bin hier weg von der Welt.» Einen Holzbalken zieren Vasen mit vertrockneten Blumen, Teekannen, eine Gasmaske. Ein Heer von dünnen Pinseln und Farbtuben bevölkert einen Tisch. Dickere Pinsel hängen neben zwei Fenstern. «Das Licht ist schwierig», sagt Rafael Grassi – am Morgen sei es zu viel, am Nachmittag zu wenig. Dennoch habe er sich sofort in das Atelier verliebt. Licht flutete damals durch die offene Schiebetüre in den dunklen Gang im Dachstock des Fotomuseums. Wenn Grassi seinen Arbeitsort verlässt, zieht er diese Schiebetüre langsam zu. Der Lichtstrahl erlischt dann. Die Magie bleibt im Atelier.
Reinschauen
Mia Diener, Olga Titus,
Fabian Stamm
Sa., 7.12., 13.00–17.00
Paulstrasse 13, Winterthur ZH
Rafael Grassi
Sa./So., 7./8.12., jew. 13.00–17.00
Grüzestrasse 45, Winterthur ZH
Weitere Ateliers: www.kuenstlergruppe.ch