Eine eisige Bise durchweht die Halle des Zürcher Hauptbahnhofs. Unter dem Uhrenwürfel am Meeting-Point, wo sich die Leute sonst auf den Füssen rumtrampeln, sind nur wenige Gestalten auszumachen, alle warm eingepackt. Eine Kleingruppe trifft sich in lautstarker Vorfreude auf was auch immer und macht sich sogleich auf den Weg wohin auch immer. Beim Warten steigen Gedanken auf. Man beginnt unweigerlich, das Gesehene zu möglichen Geschichten zu verknüpfen. Wer wartet auf wen, wer wird bald kommen? Wer ist zu früh, wer zu spät? Exakt solche Gedanken hat Markus Schönholzer in seinen Song «Treffpunkt» gegossen, den er für diesen Ort geschrieben hat. Also flugs die weissen Knöpfe in die Ohren gestöpselt, das Smartphone angeklickt, und schon singt Schönholzer: «Hüt bini der Erscht, hüt chumi nöd z spat.» Möglich macht dieses neuartige Kulturerlebnis die App Songmapp, auf der sich passende Songs und Texte zu bestimmten Stationen in Zürich finden.
«Ich habe hier viele Lieblingsorte», sagt Markus Schönholzer, der sich an diesem eisigen Montagmorgen zur gemeinsamen Zürich-Tour eingefunden hat. «Für diese Orte habe ich neue Songs geschrieben.» Steht man also auf der Kollerwiese und klickt die Songmapp an, er-klingt «Spielplatz», bei einer Unterführung in Wiedikon der Song «Unedure», im Rieterpark «Bank». Auf die Idee, seine Songs in der Stadt zu verorten, sei er eines Morgens unter der Dusche gekommen. «Es war ein trister Tag vor zwei Jahren», erinnert sich Schönholzer. «Wir waren im Lockdown und ich als Künstler zum Nichtstun gezwungen.»
«Frischluftlieder» werden laufend ergänzt
Markus Schönholzer (60) ist seit 1984 als Musiker und Komponist tätig. Er hat Soundtracks für zahlreiche Film- und Theaterproduktionen im In- und Ausland geschrieben und war im gefeierten Duo mit Robi Rüdisüli unterwegs. 2019 hatte er gerade sein erstes Soloprogramm «Schönholzer & Schönholzer» lanciert, als der pandemische Vorhang fiel.
Der «Treffpunkt»-Song ist ausgeklungen. Die Songmapp sagt «Weiter gehts!» und schlägt die nächste Station auf der Bahnhofstrasse vor. Also raus an die Sonne, wo Markus Schönholzer die Kapuze seiner Winterjacke runterschiebt und von der Entstehung seiner App erzählt. «Ich wollte schon immer Songs verorten. Und als mir die Bühne als Auftrittsort abhanden gekommen war, sah ich die Zeit dafür gekommen.» Im Gespräch mit Kollegen und Fachleuten sei das Konzept einer App entstanden, die auf einer digitalen Karte basiert und ein flanierendes Publikum zu überraschenden Konzertorten führt. «Diese niederschwellige Freiwilligkeit ist mir wichtig», betont Schönholzer. «Denn die App soll als Alternative zu bestehenden Streamingdiensten funktionieren und im Gegensatz zu diesen entschleunigend wirken.» Der Hinweis, dass er hierfür das wohl stressigste Medium gewählt habe, nämlich das Smartphone, quittiert er mit breitem Grinsen. «Ich weiss, das macht die ganze Sache doch so speziell!»
Die Bahnhofstrasse hinunter in Seerichtung begleitet den Flaneur der Song «Bahnhofstrasse», der dazu einlädt, sich mit eigenen Idealen oder Prinzipien auseinanderzusetzen. Inspiriert dazu habe ihn der wohl «untypischste und doch bekannteste» Ort in Zürich, sagt der Songschreiber. Nach dreimaligem Anhören des Songs übrigens habe man den See erreicht, lacht Schönholzer und weist darauf hin, dass seine momentan elf Songs auf der App in beliebiger Reihenfolge angehört werden können. Sie sind zusammengefasst zur Edition «Frischluftlieder», die er künftig laufend ergänzen werde.
Digitaler Auftritt zum Selbstkostenpreis
Ganz anders sei dies bei der anderen bereits aufgeschalteten Edition «11 Leben» des Zürcher Autors Ralf Schlatter. Dieser erzählt eine Geschichte in elf Teilen an elf Orten, die nacheinander in rund anderthalb Stunden abzulaufen sind. Die Songmapp sei stilistisch und formal offen konzipiert, sagt Schönholzer dazu. Nebst Songs und Texten sei auch örtlich bezogene Musik möglich wie in der demnächst aufgeschalteten Edition «Am Ort» der Glarner Komponistin Rahel Zimmermann. Sie hat an verschiedenen Orten Aufnahmen gemacht und diese zu spezifischen Raumklängen montiert. «Unsere App steht als Plattform allen offen», betont Schönholzer. «Was passt, schalten wir auf und ermöglichen damit Kunstschaffenden, Veranstaltern oder anderen kulturell Aktiven einen digitalen Auftritt zum Selbstkostenpreis.» Wenn Schönholzer von «wir» spricht, meint er den eigens gegründeten Verein. Dieser betreibt und kuratiert die Songmapp als Non-Profit-Projekt. Die immensen Kosten der Entwicklung und technischen Lancierung der App – rund 100 000 Franken – habe man grösstenteils durch öffentliche Fördergelder finanzieren können.
Fernblick auf bessere Zeiten
Auf halbem Weg zum See schlägt die App einen Zickzackkurs vor durch die City zur Europaallee und auf den Negrellisteg. Dieser führt über das Gleisgewebe vor dem Zürcher Hauptbahnhof und erlaubt Aus- und Einblicke ins Funktionieren des ÖV. Der dazu passende Song heisst «Obedure» und eröffnet die Fernsicht auf bessere Zeiten. Nun wärmt die Sonne die durchfrorenen Körper auf. «Es ist keine Winterapp, sondern eine für warmes, schönes Wetter», meint Schönholzer. Bereits in Vorbereitung seien Touren – oder eben Editionen – in Arosa, wo das Mundartfestival Kabarettisten und Slampoetinnen zu ortsgebundenen Beiträgen eingeladen hat. Im Rheintal sollen Kommentare zum Sagenweg, im zürcherischen Tösstal die «Geliebte Provinz» aufgeschaltet werden. Vorderhand zieht es uns aufs Sihlfeld, wo der Song «Fride» zur inneren Einkehr lädt.
Songmapp
www.songmapp.ch
So funktioniert die Songmapp
Was ist die Songmapp?
Eine Smartphone-App, die Songs, Texte, Rundgänge und Soundinstallationen in den öffentlichen Raum stellt. Die App ist als Plattform für verschiedene Künstler und Veranstalter konzipiert.
Was bietet die App?
Bislang sind zwei «Editionen» genannte Sound-Touren durch Zürich aufgeschaltet. Ein Reigen von elf «Frischluftsongs» von Markus Schönholzer zwischen Hauptbahnhof und Prime Tower, zwischen Enge und Seefeld. Zudem die elfteilige Geschichte «11 Leben» von Autor Ralf Schlatter, die von der Maternité des Triemlispitals bis zum Friedhof Sihlfeld führen. Weitere Touren sind in Planung.
Wie funktioniert die Navigation?
Die App ist selbsterklärend. Wer auf seinem Smartphone die Funktion «Ortungsdienste» aktiviert, wird von der App zu verschiedenen Stationen gelotst. Diese sind auf einer Karte (siehe Abbildung) markiert und müssen angeklickt werden.
Wo gibts Songmapp?
Der Downloadlink ist für sämtliche marktüblichen Smartphone-Formate erhältlich auf: www.songmapp.ch/downloadapp.html
Was kostet Songmapp?
Die App ist gratis und funktioniert als Non-Profit-Projekt. Über die «Applaus»-Funktion können dem Verein Spenden überwiesen werden, die an die Künstler gehen.