Wir stehen unten an der Zufahrtsstrasse zum Haupteingang des Friedhofs am Hörnli. In riesigen Buchstaben aus Tannenholz steht zur Linken «Zeit», oberhalb der Treppe «Los» und zur Rechten «Lassen». «Zeit Los Lassen», was für eine schöne Umschreibung fürs Unausweichliche. Und so nennt sich auch die Freiluft-Ausstellung mit 26 Wort-Installationen des Künstlers Matthias Zurbrügg, durch die wir kurz nach der Wiedereröffnung mit der Autorin Mena Kost spazieren.
Der Blick zurück auf das pralle Leben
Ob Corona wohl einen über die Pandemie hinausreichenden Ein-fluss auf unser Verhältnis zum Tod haben wird? «Corona rückt die eigene Sterblichkeit verstärkt ins Bewusstsein», sagt Mena Kost, als wir uns auf die zwischen den zwei Schildern «Start» und «Ziel» stehende Bank setzen. Der perfekte Ort für ein Gespräch über ihr neues Buch.
Darin lernen die Leser unter anderen einen Nobelpreisträger, eine Hebamme und einen Komponisten kennen. Der Blick zurück auf pralle Leben paart sich mit Blicken nach vorn – was für den Junior (83 Jahre) das Gleiche heisst wie für die Älteste (111 Jahre). «Es geht immer weiter, der Endlichkeit entgegen», wie Schauspielerin Monica Gubser (1931–2019) sagte. Herauszufinden, wie verschiedene Men-schen mit ihrer «Lebensendaufgabe» umgehen, ist der Reiz des Buchs.
Mena Kost arbeitet seit ihrer Zeit beim Strassenmagazin «Surprise» regelmässig mit der Fotografin Annette Boutellier zusammen. Durch die Fotos werden die Porträts noch lebendiger. Die Idee zum Buch nahm nach einem Besuch bei ihren Grosseltern Formen an. Ein Konto kam zur Sprache, welches die Grosseltern für ihre Beerdigungskosten eingerichtet hatten. Mena Kosts erste Reaktion: «Ich will das nicht hören!»
15 Menschen mit Offenheit porträtiert
Wir haben den Tod so gut es geht aus dem Leben verbannt. Wir bahren die Verstorbenen nicht mehr zu Hause auf, und Friedhöfe besuchen wir selten. «Mit dem medizinischen Fortschritt ist der Tod in die Krankenhäuser gezogen. Damit sind die Toten fast komplett aus unserer Umgebung verschwunden», schreibt Mena Kost im Vorwort.
Auch fast ganz verschwunden ist die Wortinstallation «Savoir Mourir». Die Buchstaben werden von hohem Gras überwuchert. Man muss sehr genau hinschauen, um den Schriftzug zu entziffern. Dass er just neben den drei gut besuchten Abfallmulden «Kompostierbares Material», «Brennbares Material» und «Tonmulde» steht, hat zwar nichts mit der Ausstellung zu tun, trägt aber zum Reiz des Friedhofrundgangs bei.
«Savoir Mourir», «wissen, wie man stirbt», diesem Geheimnis sind auch die 15 Porträtierten des Buchs auf der Spur: «Tot ist tot, da mache ich kein grosses Zeugs drum», heisst es dort etwa. Oder: «Der Tod ist kein Wolf, der am Waldrand steht und vor dem man Angst hat. Nein, der Tod ist etwas Unverdautes.» Ein roter Faden zwischen den Porträts sind die Offenheit und der Mut, mit denen das «Ausleben» thematisiert wird. «Angst habe ich davor, das bewusste Leben zu verlieren, dement zu werden. Deshalb bin ich bei Exit», heisst es im Band.
Die Endlichkeit als nicht endender Kreislauf
Es ist ein versöhnlich stimmendes, auch zum Lachen anregendes Buch. So sagt der Kapuziner-Mönch Hesso Hösli: «Wenn ich sterbe, muss jemand bei mir sein, den ich als echt empfinde. […] Sonst würde ich noch beim Sterben denken: ‹Ja, hör doch auf mit deinen Sprüchen!›» Die Worte einer 94-Jährigen, die in ihrem Leben elfmal umgezogen war, zaubern ebenfalls ein Schmunzeln ins Gesicht: «Dass man nach dem Tod alle wiedersieht, die man zu Lebzeiten gekannt hat, kann ich mir nicht recht vorstellen. Wir kennen ja so viele Leute; gerade wegen dem vielen Umziehen.»
Wir betreten eine von Hecken eingefasste Rasenfläche. Übergrosse Buchstaben stehen rings um uns herum. Wir müssen uns um die eigene Achse drehen, um zu lesen, was da geschrieben steht: «Endlichkeit» lesen wir. Dass die Endlichkeit durch die kreisförmige Anordnung weder Anfang noch Ende hat, ist der Clou. Die Endlichkeit als nicht endender Kreislauf.
Auch Molekular-Biologe Werner Arber seziert im Band von Mena Kost gängige Jenseitsvorstellungen. Er freut sich schon, die in seinem Körper geballten «Teile von Atomen» wieder in den Kreislauf zurückzugeben: «Sie können zur Bildung von etwas Neuem beitragen. Das kann auch eine Pflanze sein oder ein Wurm. Ich finde es sehr befriedigend zu wissen, dass ich diese Grundbausteine wieder abgebe.»
Grau, Weiss und Beige mehr beachten
Bei so viel rationaler Gelassenheit ist der Ansatz des Komponisten und Musikers Bruno Spoerri wohltuend: «Mit dem Tod gebe ich mich möglichst wenig ab.» Etwas später skizziert er dann doch noch eine Todes-Vorstellung: «Ich würde gerne plötzlich sterben. Bei einem Konzert tot umzufallen wäre zum Beispiel eine Idee.»
Auf dem Friedhof am Hörnli gibt es derweil weitere poetische Interventionen zu entdecken. Das reicht vom «Jenseits», das sich im Froschteich spiegelt, über ein «Schlafen», das am Abhang lehnt, bis zum simplen «Mensch» ganz oben auf dem Hörnli, wo man über die Stadt und den Friedhof sieht.
Die Ausstellung «Zeit Los Lassen» animiert dazu, mit offenen Augen über den grössten Friedhof der Schweiz zu spazieren. Warum Friedhöfe nur tunlichst gemiedene Orte der Trauer sein sollten, versteht man nach dem Rundgang weniger denn je.
Und was bleibt Mena Kost nun von ihrem Buch besonders in Erinnerung? «Bevor ich am Buch arbeitete, habe ich alte Menschen wenig beachtet – Grau, Weiss und Beige habe ich im Alltag oft ausgeklammert», sagt sie. «Jetzt sehe ich sie viel bewusster. Meine Stadt ist dadurch viel reicher geworden.»
Ausstellung
Zeit Los Lassen
Bis So, 16.8., Friedhof am Hörnli Riehen Basel
Die Ausstellung kann selbständig begangen werden oder auf einem literarischen Spaziergang mit dem Schriftsteller und Schauspieler Matthias Zurbrügg
www.mesarts.ch/wortinszenierungen.html
Buch
Mena Kost & Annette Boutellier
Ausleben – Gedanken an den Tod verschiebt man gerne auf später
Mit 55 Abbildungen
(Merian 2020)