Die kleine Eule sieht alles. Dunkelrot funkeln ihre Augen von der Wappenscheibe, die an einem der wenigen Fenster des langgezogenen Raums hängt. Wach und intelligent wirkt das Tier – wie jedes von Celestino Piattis Geschöpfen.
Grellingen, Baselland. Ein Teil des Nachlasses des Schweizer Illustrators und Grafikers lagert hier in einer alten Gewerbehalle. Die helle Fassade und das verblichene Türkisgrün des Holztors gaukeln einem Griechenland vor. Doch in den Jura-Hügeln, die den Ort umarmen, haben sich an diesem Herbsttag graue Wolken verfangen. Drinnen surrt ein kleiner Elektroofen verzweifelt gegen die Kälte an. Barbara Piatti, eine von Celestino Piattis Töchtern, trägt einen dicken Norwegerpulli. Gleich zu Beginn verschwindet sie zwischen zwei hohen Holzregalen; irgendwo dort hinten versteckt sich ihr Wasserkocher für eine Tasse Tee. Im Archiv ist freier Platz rar. Auf den Regalen stapeln sich Kartons und Plakatrollen bis unter die Decke, auf Tischen türmen sich Mappen und Skizzenbücher, Plakate und Gemälde stehen an Kisten gelehnt. Und von überall her blicken einen Celestino Piattis Tiere an: Eichhörnchen, Fische, Kängurus – und natürlich Eulen, die Lieblingstiere des Künstlers.
Sein Ritter warb für das Frauenstimmrecht
Die Arbeiten von Celestino Piatti (1922–2007) sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Schwarze Konturen und intensive Farbflächen – mit seinem unverkennbaren Stil gestaltete er unzählige ikonische Plakate, Kinderbücher und Buchcover. Sein freundlicher Ritter warb 1966 in Basel für das Frauenstimmrecht. Sein ulkiges Fabeltier Xopiatti gesellt sich im «ABC der Tiere» zu friedlichen Löwen und schlauen Orang-Utans. Und eines von über 6000 dtv-Büchern mit seinem Cover findet sich in fast jedem Haushalt.
Zwischen den Regalen brodelt nun das Teewasser. Piatti greift in eine Reihe sich aneinanderschmiegender, gerahmter Bilder. «Immer, wenn ich denke, ich hätte die schönsten Trouvaillen schon ausgesucht, entdecke ich etwas Neues», sagt sie und hält das Gemälde einer Ballerina in der Hand. Vor dunklem Hintergrund hat diese zum Arabesque-Sprung angesetzt. Ein Plakat-Entwurf fürs Basler Ballett. Als Nächstes zieht Piatti das kleine Porträt einer etwas finsteren Dame hervor. «Frau mit Halskette», liest sie von der Etikette auf der Rückseite ab, lacht über diesen prosaischen Titel ihres Vaters und sagt dann: «Dieser Ort ist eine Schatzkiste.»
Diese Schatzkiste öffnet Barbara Piatti zum 100. Geburtstag ihres Vaters an mehreren Tagen. Dessen Nachlass betreut die Germanistin zusammen mit Familienmitgliedern, Historikern und Archivspezialisten im Verein Celestino Piatti. Das Archiv sei jahrzehntelang für die Öffentlichkeit geschlossen gewesen, erzählt sie und giesst zwei Tassen Tee auf. «Jedes Mal, wenn ich eine der vielen Schachteln öffnete, dachte ich: Das ist ein Jammer, damit müssen wir etwas machen.» Seit 2019 ist der Verein dabei, das Material zu digitalisieren und aufzuarbeiten. Ein erstes Resultat ist das Buch «Alles, was ich male, hat Augen», das einen Überblick über Celestino Piattis Werk bietet.
Wie vielfältig dieses ist, zeigt auch der Gang durch das Archiv. Barbara Piatti ist an einen Tisch getreten, der unter Mappen und losen Blättern kaum mehr zu sehen ist. «Das ist eine meiner Lieblingsserien: Linolschnitte, die er für die John-Steinbeck-Reihe von dtv gemacht hat.» Sie greift sich ein paar Entwürfe: ein Blatt voller kleiner Cover-Skizzen; Varianten für «Früchte des Zorns» mit unterschiedlichen Farmgebäuden; eine erste Version von «Die Strasse der Ölsardinen», deren Rand Pinselstriche in verschiedenen Blautönen zieren. Auf einem weiteren Stapel liegen Wachskreide-Entwürfe für «Der kleine Krebs»; gleich daneben ein Aquarellbild für «Barbara und der Siebenschläfer» – jenes Kinderbuch, in dem Celestino und seine Frau Ursula eine Episode aus Barbara Piattis Kindheit festhielten.
Eine unbekannte Seite des Vaters kennengelernt
Die Familiengeschichte der Piattis ist in Grellingen allgegenwärtig. Die psychedelische Blumenzeichnung auf der Holztür zeichneten Barbara Piatti und ihre Schwester Celestina als Kinder. Die Archiv-Arbeit wiederum habe ihr unbekannte Seiten ihres Vaters eröffnet, sagt sie. Da er bei ihrer Geburt bereits 50 gewesen sei, habe sie durch seine Fotos und Reisezeichnungen an die früheren Jahre anknüpfen können. «Das hat mich sehr berührt.» Eine pinke Holzkatze beobachtet Piatti argwöhnisch, als sie zu einem Pult geht und eine Mappe mit Logo-Entwürfen und Geschäftsbriefen öffnet. «Ich erlebte ihn immer als mild, aber in diesen Briefen zeigte er ein gesundes Mass an Selbstvertrauen.» Ein Beweis dafür hängt neben dem Pult: das Rolex-Plakat von 1973. Ein Fisch – halb Tier, halb Taucheruhr – treibt in der dunklen Tiefsee. Das bunte Wesen wirkt zufrieden. Als wüsste es, wie vehement sich sein Schöpfer beim Uhrenhersteller für sein Leben einsetzte.
Noch immer entdeckt die Tochter Neues
Barbara Piatti hat den Kontorschrank neben dem Eingang geöffnet, liest halblaut die Schriftzüge auf den flachen Schachteln ab. Noch immer entdeckt sie Kisten, deren Inhalt ihr unbekannt ist. «Ich kann es manchmal selber nicht fassen.» Jetzt zieht sie eine Schachtel aus dem Schrank und öffnet sie: ein Wasserzeichendruck, den ihr Vater mit der Papiermühle Basel umsetzte. Piatti hält das weisse Blatt Papier gegen ein Deckenlicht. Fein erscheinen die Umrisse einer Meerjungfrau. Ihr Blick ist selbstbewusst. Schliesslich ist auch sie ganz ein Geschöpf von Celestino Piatti.
Piatti Archiv-Tage
Mi, 5.1., Sa/So, 8.1./9.1. Grellingen BL
Anmeldung: www.celestino-piatti.ch
Piatti für Kinder
Geschichten am Sonntagnachmittag
Mit Urs Schaub, ab 5 Jahren
So, 16.1., 15.30 Literaturhaus Basel
Buch
Celestino Piatti
Hg.: Barbara Piatti, Claudio Miozzari
Alles, was ich male, hat Augen
384 Seiten
(dtv/Merian 2021)