Was Friederike Steckling auf ihrem Laptop sieht, erinnert an eine Landschaft, die ein Satellit fotografierte. Schnurgerade Strassen durchschneiden Kornfelder. Seen und Wasserläufe sprenkeln eine Ebene. Dieser Blick von weit oben ist in Wahrheit einer von ganz nahe: die Mikroskop-Aufnahme eines gelben Rechtecks aus Ölfarbe, die 40-fache Vergrösserung von Piet Mondrians «Tableau No. 1».
«Das Auge ist unser wichtigstes Werkzeug»
Friederike Steckling gehört zum dreiköpfigen Restauratorenteam der Fondation Beyeler in Riehen. Ihr Arbeitsplatz ist ein weisser, hoher Raum im Untergeschoss des Museums. Eine grosse Fensterfront lässt Tageslicht in die Werkstatt und erlaubt es den Besucherinnen und Besuchern, den Restauratoren bei der Arbeit zuzuschauen. Die wenigen, die das an diesem Freitagmorgen tun, werfen meist nur einen kurzen Blick durch das Fenster. Scheu oder Ehrfurcht? Vermutlich Letzteres. Immerhin stehen sechs der sieben Mondrian-Gemälde des Museums hier. In zwei Jahren will das Haus diese anlässlich einer umfassenden Schau über Piet Mondrian (1872–1944) neu präsentieren. Bis dahin sollen die Arbeiten des Niederländers im Rahmen des «Piet Mondrian Conservation Project» bis aufs kleinste Detail untersucht und erforscht werden.
«Tableau No. 1» liegt auf einem Tisch, der mit sandfarbenem Stoff überzogen ist. Darüber hängt ein Mikroskop am langen, schwarzen Hals eines massiven Stativs. Wie Insektenfühler krümmen sich zwei verstellbare Lämpchen zum 75 x 65 Zentimeter grossen Gemälde runter, werfen eine helle Fläche auf die Leinwand.
Friederike Steckling blickt abwechslungsweise durch die Okulare und auf die Digitalaufnahme, die das Mikroskop auf den Bildschirm ihres Laptops schickt. «Das Auge ist unser wichtigstes Werkzeug», sagt sie. Derzeit scannt sie das Tableau Millimeter für Millimeter als Vorbereitung für die Bestimmung der Farbpigmente. Eine zeitintensive Arbeit.
Detailansichten erinnern an schroffe Felseninseln
Das «Tableau No. 1» besteht aus fast 30 Farbflächen und Dutzenden von schwarzen Linien. «Jedes Rechteck hat zwei bis drei Schichten darunter. Ich muss überall die Flanken untersuchen, um die Pinselstriche zu sehen», erklärt Steckling. Ein Team von Spezialisten aus den Niederlanden wird die Farbanalyse später mit einem speziellen Gerät durchführen, das eine physi-sche Probenentnahme überflüssig macht.
Steckling verschiebt das Bild um ein paar Zentimeter. Mit zwei, drei Klickgeräuschen stellt sie das Mikroskop am Drehknauf neu ein. Auf dem Laptop erscheint nun etwas, das an eine schroffe Felseninsel erinnert – die Detailansicht eines zweiten gelben Rechtecks. Ihre Voruntersuchung legt auch offen, wo das Bild allenfalls restauriert werden muss. «Die gelbe Malschicht ist sehr heikel», sagt die Restauratorin und deutet auf den inselförmigen Umriss auf ihrem Bildschirm. Über die Jahre hätten die Schichten angefangen, sich zu trennen. Es sei bereits einmal Leim zur Festigung angebracht worden. Vielleicht sogar von Piet Mondrian selber?
Solche und weitere Fragen klären die Restauratoren in den nächsten Monaten. «Detektivarbeit», sagt Markus Gross, Leiter des Teams. Er lässt an diesem Morgen seine Arbeit an «Composition with yellow and blue» ruhen, um über das «Piet Mondrian Conservation Project» zu sprechen. Das Gemälde steht auf einer Holzstaffelei; Gross untersucht derzeit die Pinselstriche im Weiss. Sein Detektiv-Vergleich ist treffend. Wie die Ermittlungs-Hinweise in einem TV-Krimi hängen grossformatige Fotos, Listen und Farbproben an den Werkstattwänden. A3-Blätter zeigen die durchnummerierten Farbflächen und hervorgehobene Risse der Gemälde. Vergrösserungen, Infrarot- und Röntgenaufnahmen verdeutlichen mal den Pinselduktus, mal die Dicke des Farbauftrags. Die Restauratoren untersuchen bei jedem Werk Grundierung und Farben, Bildträger und Rahmung. Sie analysieren und dokumentieren den aktuellen Zustand und die Spuren früherer Restaurationen. Und sie ordnen die Werke zusammen mit Kunsthistorikern und Archivspezialisten ins Œuvre des Malers ein.
Die Technik hinter den schwarzen Linien
«Gerade was Mondrians Arbeitsweise betrifft, sind jedoch noch Fragen offen», so Gross. Er erzählt, wie er und sein Team in den vergangenen Monaten schon mehrmals von der Komplexität und der Raffinesse hinter Mondrians vermeintlich simplen geometrischen Gemälden überrascht wurden. Während er spricht, lässt Cathja Hürlimann, die dritte Restauratorin im Beyeler-Team, im hinteren Teil des Raumes den Strahl ihrer Taschenlampe über eine weitere Arbeit wandern. In Kürze wird sie versuchen, anhand eigener Malproben auf sogenannten Mock-ups, die Technik hinter den schwarzen Linien zu rekonstruieren. Benutzte Mondrian ein Lineal? Welche Pinseldicke verwendete er? Wie erreichte er diesen Mattglanz?
Ein Privileg, mit Mondrians Bildern zu arbeiten
Mit einem leisen Rauschen dreht Friederike Steckling noch einmal das «Tableau No. 1» auf dem stoffbespannten Tisch. Ihr Mikroskop ist jetzt auf ein längliches, grau-blaues Rechteck des Gemäldes gerichtet. «Ich vergesse auch nach 20 Jahren nicht, welches Privileg es ist, so nah an diesen Bildern sein zu dürfen», sagt sie. «Es ist sehr intim – man spürt, wenn der Künstler im Arbeitsfluss war.» Mit einigen Klickgeräuschen verstellt sie das Mikroskop. Deutlich ist auf ihrem Laptop nun der ausgewählte Bereich zu sehen: das einsame, leicht krakelige «P» von Piet Mondrians Signatur. Noch kennt nur er allein alle Geheimnisse seiner Bilder.
Piet Mondrian Conservation Project
Wer den Restauratoren über die Schulter schauen will, tut dies am besten vom Untergeschoss der Fondation Beyeler in Riehen BS aus. Das Team arbeitet bis Ende 2021 an den Mondrian-Gemälden.
www.fondationbeyeler.ch