«Mir drehe – Rueh bitte!» Wenn die Stimme des Aufnahmeleiters ertönt, wirds still. Auf einen Schlag. Mäuschenstill. Denn wenn die Klappe fällt, gehört die Welt für einen Moment nur den Akteurinnen vor der Kamera: Das sind an diesem Samstag die Kommissarinnen Tessa Ott und Isabelle Grandjean alias Carol Schuler und Anna Pieri Zuercher.
Die neuen Ermittlerinnen in der Limmatstadt
Wir sind am Filmset des neuen «Tatort» in Zürich. Drinnen im warmen Restaurant Live im News- und Sportcenter im «Leutschenbach». Draussen hängt der Nebel tief. Es ist kalt: null Grad. Vorgesehen war, im Freien zwischen dem Betongemäuer zu drehen. Die grosse Wendeltreppe im Innern des Gebäudes aber ist der Regisseurin Viviane Andereggen bei Ankunft am Drehplatz ins Auge gestochen. Sie scheint für den Szenendreh viel optimaler als die kahle Betonlandschaft draussen. Darum heissts: Planänderung. Der Drehort wird nach innen verlagert. Schneller als das Auge erlaubt, packt die 35-köpfige Filmcrew ihre Siebensachen zusammen: Kameras, Monitore und weitere Gerätschaften werden ins Innere verfrachtet. Ameisen gleich wuseln die Leute herum, verschieben sich und die Ausrüstung, ohne einander in die Quere zu kommen, ohne grosse, schon gar nicht laute Worte. Jeder weiss, was er zu tun hat.
Auch für die 32-jährige Carol Schuler und die 40-jährige Anna Pieri Zuercher heisst es buchstäblich: «Umziehen». Schnell entledigen sich die beiden Schauspielerinnen ihrer Kleidung, vornehmlich ihrer Thermowäsche – unter ihrer «Filmkleidung» das höchste der Gefühle bei Minustemperaturen. Der Drehort vor der Wendeltreppe im geheizten Gebäude überzeugt hier jede und jeden – nicht nur der Ästhetik wegen.
«Mir drehe – Rueh bitte!» Wieder in Kleidung und in ihre Filmcharaktere geschlüpft, gehen die «Tatort»-Ermittlerinnen die gewundene Treppe hinunter: Sie sprechen über den Inhalt eines Briefes, ein Schreiben, das offensichtlich Fragen aufwirft.
Im neuen «Tatort» aus Zürich spielt Carol Schuler die junge Fallanalytikerin Tessa Ott, Anna Pieri Zuercher ist als Ermittlerin Isabelle Grandjean im Film bereits seit fünf Jahren in der Limmatstadt tätig. Zuvor hat sie als Juristin beim Europäischen Gerichtshof gearbeitet. Fall eins der neuen Folgen führt zurück in die Geschichte der 1980er-Jahre, als Zürich brannte und die Jugend für ihre Ideale kämpfte. Der zweite «Tatort» stellt die Kommissarinnen vor ein Familiendrama am Zürichberg, wo der Chef einer Schokoladenfabrik ermordet wird.
«Eine traumhafte Zusammenarbeit»
«Was uns als Figuren verbindet, ist die Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Wir funktionieren nicht nach dem System ‹Good Cop, Bad Cop›, sondern vielmehr als die erfahrene und die weniger erfahrene Ermittlerin. Hart oder weich können wir beide sein», sagt Carol Schuler und fügt hinzu: «In den ersten Wochen musste ich allerdings erst in diese Ermittlerfigur reinfinden, da ich eine derartige Rolle zuvor noch nie gespielt habe. Ausserdem ist sie keineswegs eine eindimensionale taffe Haudrauf-Figur, sondern im Gegenteil sehr vielschichtig.»
Das Ermittlerinnenduo hat sich nicht nur im Film neu gefunden: Carol Schuler und Anna Pieri Zuercher kannten sich zuvor nicht, sie stehen auch als Schauspielerinnenduo zum ersten Mal gemeinsam vor der Kamera. «Aber wir hatten vom Casting weg eine gute Chemie», sagt Carol Schuler. «Deswegen flutscht das seit dem ersten Drehtag bei uns.» Anna Pieri Zuercher nickt: «Von Anfang an konnten wir uns aufeinander verlassen. Es gibt nie Fragen, es ist immer alles klar zwischen uns. Eine traumhafte Zusammenarbeit.»
Gerade bei einer Partnerrolle, die sich über längere Zeit hinwegzieht, ist ein solch gutes Einvernehmen für die Arbeit nur förderlich, da sind sich die beiden einig. Denn: «Es ist eine lange Drehzeit», sagt Anna Pieri Zuercher, die mit Mann und Kind in Lausanne lebt und während des «Tatort»-Drehs seit November in Zürich wohnt. Genauso wie Carol Schuler, die in Berlin lebt.
Die beiden Schauspielerinnen haben ein dichtes Programm hinter sich. Nach einer intensiven Vorbereitungszeit mit den Drehbuchautoren, der Regisseurin, mit Polizisten, Ermittlern, bei Schiess- und Stunttrainings gings Anfang November an die Dreharbeiten. In der Villa Patumbah, auf dem Sechseläutenplatz, der Hardturmbrache, im Staatsarchiv oder in der Roten Fabrik waren die Ermittlerinnen mit ihrer Filmcrew unterwegs.
Figuren vom Papier zum Leben erweckt
«Ich freue mich nun darauf, das Endresultat zu sehen», sagt Anna Pieri Zuercher. Nachdem die ersten zwei «Tatort»-Folgen im Kasten sind, können die Schauspielerinnen ihre Verantwortung weitestgehend an Regie, Schnitt, Produktion abgeben. Und sich in die Reihe der Drehbuchautoren Stefan Brunner und Lorenz Langenegger stellen, die an diesem Samstag ebenfalls anwesend sind. Als Zuschauer notabene, denn ihre Arbeit hat sich mit der Abgabe des Drehbuchs erledigt. «Es ist schön zu sehen, wie die Figuren und Handlungen vom Papier zum Leben erweckt werden», sagt Lorenz Langenegger. «Und was die beiden Schauspielerinnen aus den Figuren der Ermittlerinnen machen, gefällt mir sehr gut.» Die beiden Autoren haben bereits etliche Drehbücher gemeinsam verfasst, darunter auch für den Luzerner «Tatort» – «Die Musik stirbt zuletzt». Die beiden sind ein eingespieltes Team. Da Brunner in Bern und Langenegger in Wien lebt, geschieht der Austausch vorwiegend per Mail und Skype. «Es ist ein grosser Vorteil, zu zweit zu schreiben, denn es ist eine einsame Sache, allein vor dem Computer zu arbeiten», sagt Stefan Brunner, während Lorenz Langenegger die Zusammenarbeit aus einem anderen Grund nicht mehr missen will: «Das Filmbusiness ist ein Riesenapparat. Zu zweit aufzutreten, hat da nur Vorteile. Man ist viel robuster.»
«Mir drehe – Rueh bitte!» Zum x-ten-Mal wird die Treppenszene wiederholt. Mal hängt das Mikrofon zu tief, mal sitzt die Frisur nicht richtig, oder die beiden Statisten fehlen. Doch eine Stunde später scheint alles im Kasten. «Aus. Danke», verkündet Regisseurin Viviane Andereggen und lässt die Schauspielerinnen mit einem «Give me five!» wissen, sie haben ihren Job gut gemacht.
«Tatort» aus Zürich
Ab Herbst 2020 SRF 1